Knikkerkoning

Dossier

Knikkerkoning(Murmelkönig)

von Kira Wuck

Kira Wuck, Knikkerkoning, Podium 2021, 208 Seiten

 Lizenzmanagerin bei Podium: Feline Streekstra (fs@uitgeverijpodium.nl)

  

Textfragmente und andere Infos übersetzt und zusammengestellt von Andrea Kluitmann, (akluitmann@xs4all.nl) im Rahmen eines Initiativstipendiums des Nederlands Letterenfonds (NLF), September 2021

 

 

Inhalt Dossier

·      Kurzinfos über die Autorin und den Roman

·      Teilübersetzung

·      Interview von Marjolijn de Cocq (Het Parool, 10.01.2021)


 Über Kira Wuck und Knikkerkoning


© Hans Willem Gijzel

 

Kira Wuck (1978) debütierte 2012 mit dem Gedichtband Finse meisjes (Finnische Mädchen), der für den C. Buddingh-prijs nominiert war, einem der wichtigsten niederländischen Lyrikpreise. Finse meisjes wurde mit dem Elinevan Haaren-prijs 2013 sowie dem LucyB. en C.W. van der Hoogtprijs 2013 ausgezeichnet, überaus lobend empfangen und mehrfach neu aufgelegt. 2016 erschien der Erzählband Noodlanding (Notlandung),2018 folgte ein zweiter Gedichtband De zee heeft honger (Das Meer hat Hunger). Knikkerkoning (Murmelkönig) ist Kira Wucks erster Roman, der in der Presse äußerst positiv rezensiert wurde.

Informationen auf Englisch sowie eine Teilübersetzung von Michele Hutchison findenSie auf der Website des NLF unter http://www.letterenfonds.nl/nl/boek/1426/knikkerkoning

Übersetzer Paul Vincent schrieb eine Rezension und fertigte ebenfalls eine englische Teilübersetzung an: https://www.the-low-countries.com/article/knikkerkoning-by-kira-wuck-detached-tale-of-a-wild-life

Teilübersetzung

 

Aus: Kira Wuck, Knikkerkoning(Murmelkönig), übersetzt von Andrea Kluitmann

 

Knikkerkoning ist die Geschichte von Kira Wucks Eltern Anne und Otto. Der Roman besteht aus drei Teilen. In Teil I geht es um Annes und Ottos Kinder- und Jugendjahre, Teil II umfasst die gemeinsame Zeit in Amsterdam, erst als junge Hippies, später auch als Eltern der Tochter Jane. Während die ersten beiden Teile auktorial erzählt werden, tritt in Teil III Jane als Ich-Erzählerin auf. Teil III endet mit Annes Tod. Es folgt ein Epilog.

 

S.9-11, Buchanfang

TEIL I

Anne

 

SOMMERKATZEN

 

Anne zählt die Schneeflocken, die vor dem Fenster fallen, indem sie ihnen mit dem Finger folgt. Schnee ist so nichtsig, und trotzdem mag sie ihn. Er verbirgt alles, was Menschen zurücklassen. Auf dem Land liegen Katzen unter dem Schnee verborgen, im Sommer werden sie für die Kinder in den Ferienhäusern gekauft und danach zurückgelassen. Sommerkatzen werden sie genannt. Wenn der Schnee schmilzt, kommen die abgemagerten Leichname zum Vorschein. Manchmal sind sie noch völlig unversehrt. Anne denkt oft an die Kätzchen, trotz ihres grausamen Schicksals findet sie es schön, wir ihr Jungsein von einem Eisklumpen festgehalten wird.

 

Anne sitzt bei der Nachbarin am Küchentisch, beide halten die Hände im Schoß gefaltet. Ihre Nachbarin wartet auch, aber Anne weiß nicht, worauf. Sie schlägt Anne vor, doch piparkakku* in Form von Katzen zu backen, aber Anne wartet auf ihren Vater. Als sie weitere vierzig Schneeflocken gezählt hat, kommt er.

 

*Traditionelles finnisches Weihnachtsgebäck mit Ingwer, siehe Wörterliste am Ende [die Liste umfasst nur fünf Wörter, AK]

 

„Wir bauen ein Iglu!“, ruft er, als er endlich im Türrahmen steht. Schnell schlüpft Anne barfuß in ihre knallgelben Stiefel. Papa hebt sie hoch in die Luft. Die Nachbarin hält mit einer Hand Annes langen Rock fest, als wollte sie sie nicht gehen lassen, in der anderen zwischen den vergilbten Fingern eine Zigarette.

„Victor, ihre Jacke!“, ruft sie noch, aber da sie sind schon weg. Anne kann nichts passieren, sie fühlt sich auf PapasSchultern sicher, schwankend gehen sie die Treppe hinunter, während er „JingleBells“ singt.

Draußen schneidet die Kälte wie Messerstiche in ihre Arme und Beine, aber sie sagt nichts. Bis zu den Oberschenkeln steht sie im Schnee, ihre Stiefel füllen sich. Sie rollen riesige Schneebälle und stapeln sie im Halbkreis aufeinander. Ab und zu lässt sich ihr Vater fallen. „Rette mich!“, ruft er dann, und Anne eilt zu ihm, um ihn aus dem Schnee zu ziehen. Als das Iglu fertig ist, holt Papa bei den Nachbarn eine Laterne und sie setzen sich hinein, um sich gegen den Wind zu schützen.

„Pass auf, dass die Russen dich nicht entdecken, Anne“, sagt Papa, während er sie an sich drückt. Sein Wollmantel riecht vertraut. „Zeit zum Aufwärmen“, sagt er und hält sich einen silbernen Flachmann an die Lippen. Danach erzählt er vom Krieg. Das macht er oft, wenn er daraus getrunken hat. Anne sieht die Nachbarin vor dem Fenster stehen, Rauch umtanzt ihre Beine.

„Wir Finnen haben sisu. Es kostete die Russen Wochen, sich unseren winzigen Streifen Land unter den Nagel zu reißen, während sie sämtliche Maschinen und die Bemannung dafür hatten. Wir hatten rein gar nichts, kaum genug Kleidung, um uns warm zu halten, aber dennoch hielten wir stand. Bis zum Umfallen kämpften wir mit den bloßen Fäusten“, erzählt Papa, während er Annes Faust in die Höhe hält. „Ein Finne gibt niemals auf, auch, wenn seine Situation aussichtslos scheint. Manchmal ist das auch ein Fehler und es wäre besser, eher loszulassen. Deine Mutter zum Beispiel.“

Anne spürt die Kälte nicht, eigentlich spürt sie nichts mehr. So müssen die Sommerkatzen sich fühlen, denkt sie, in ihrem eisigen Fell. Gelassen und ohne Angst. Sie hört nur noch Papas Stimme, während sie allmählich wegdämmert. Papa erzählt, wie Opa ihn unter Einsatz seines Lebens aus den Händen der Russen rettete, als er als kleiner Junge Weizen gestohlen hatte. Diese Geschichte hat er schon öfter erzählt, aber das ist egal. Mit halbgeschlossenen Augen sieht Anne die russischen Uniformen vor sich.

           „Das würde ich auch für dich tun, Anne, du bist das Allerbeste, was mir das Leben jemals gebracht hat.“ PapasStimme klingt immer metalliger. Anne träumt, sie läge in einer geschlossenen Rutsche und es ginge rasend schnell hinab.

 

WER ISST, ÜBERLEBT

[…]

 

S. 14-15

Annelernt lesen und sie findet es großartig, stundenlang in einer anderen Weltum herzuschweifen, genau wie in ihren Fieberträumen. Innerhalb weniger Wochen hat sie alle Bücher der Schulbibliothek aus.

Mit neun Jahren raucht sie ihre ersteZigarette, zusammen mit ihrer besten Freundin Kirsi. Nachdem sie sich den Rauch in die Wangen gesaugt haben, erschrecken sie gegenseitig, weil das hilft, ihn noch tiefer zu inhalieren. Anne ahmt ihren Vater nach, er raucht immer ganz lässig, während er seine Umgebung in sich aufnimmt wie ein Filmstar.

 

ZweiJahre später entdeckt Anne den Arzneischrank ihrer Mutter, sie weiß nicht, wofür die Pillen sind, aber danach fühlt sie sich entspannter. Sie bedecken die Wirklichkeit mit einem angenehmen Schleier.

Zum zwölften Geburtstag bekommt Anne von ihrem Vater einen Kassettenrekorder mit einer Kassette von Cliff Richard. Sie sind die ersten in ihrem Mehrfamilienhaus mit so einem Apparat. Die gesamte Nachbarschaft kommt vorbei, um zu hören, wie das Geräusch aus den Boxen strömt. Anne legt ihr Ohr an die Box, bis ihre Mutter sie wegzieht. Sie spürt den wummernden Bass überall in ihrem Körper. Kinder tanzen im Zimmer und Papa macht Cliff Richard nach, er hat wieder aus seinem silbernen Flachmann getrunken. Mit einer Zigarette im Mund schwingt er die Hüften.

 

S.16-19

Otto

 

GEMEINSAMER FEIND

Otto rangelt sich mit seinen beiden Brüdern und vier Schwestern am Krankenhausbett der Mutter. Schreiend schuben die Kinder sich gegenseitig weg, um den besten Platz zu ergattern.

Ottos verwaschenes T-Shirt, geerbt von seinem Bruder Ernst, umspannt seine magere Brust. Seine kurze Hose rutscht ständig herunter. Auch die Sachen seiner Brüde rsehen aus, als stammten sie aus der Kostümkiste. Nichts passt so richtig zusammen.

Ottos jüngste Schwester Dina hat nicht die geringste Chance, zu ihrer Mutter zu gelangen, ihre Hände reichen nur knapp bis ans Metallgitter des Bettes. Sie jammert am lautesten von allen. IhreMutter ist schwach, sie hat einen Tumor im Kopf, so groß wie einTischtennisball. Vorige Woche hat Ferry so ein Bällchen in die Höhe geworfen, um zu zeigen, wie groß so was ist. Er hatte es den Arzt selbst sagen hören.

Otto war schnell weggerannt und ertappte sich später dabei, dass er den kleinen Ball regelmäßig in die Hand nahm. Wenn niemand in der Nähe war, warf er es so fest er nur konnte gegen die Wand, aber es zerbrach nie.

 

Mutter lässt den Kopf in die Hände sinken und reagiert auf nichts mehr. Dann gelingt es Otto, über Regina und Elsa hinweg zu klettern, wie ein Äffchen. Er lächelt riumphierend und lehnt sich an sie, er weiß nicht warum, aber er sehnt sich danach, wieder wie ein Baby auf ihrem Arm zu hängen. Mutters Gesicht heitert sich auf und sie gibt ihm einen Kuss auf beide Wangen.

„Du wirst es schon schaffen. Wir haben die gleichen langen Wimpern, weißt du das?“

Otto schaut in die dunklen Augen seiner Mutter. „Gibst du gut acht auf deine Geschwister? Und bleib ein wenig aus derNähe deines Vaters.“

           Otto nickt und zieht Dina an ihren Ärmchen hoch ins Bett. Sie ist fast drei. Mutter streichelt ihre schwarzen Zauselhaare. Währenddessen führt Ferry seinen neuesten Zaubertrick vor, den er tagelang geübt hat, aber Mutter starrt abwesend vor sich hin. Er wiederholt denTrick mehrmals, aber er bekommt keine Aufmerksamkeit. Enttäuscht schmeißt er seine selbstgebastelte Konstruktion auf den Boden und schlägt fest auf dasNachbarbett. Da liegt ein magerer Mann mit aufgesperrtem Mund und geschlossenenAugen. Er zeigt keine Reaktion.

Da kommt Vater. Er geht immer fast stampfend, als müsse er sich wilde Tiere vom Leib halten. Ferry versucht, Otto vom Bett zu ziehen, aber der setzt sich tretend zur Wehr. „Ich finde deinenZaubertrick auch doof“, sagt er.

„Und jetzt ist Schluss!“, tönt es von der Tür.

Alle Kinder schauen auf den Boden, keiner traut sich, ihn anzusehen. Falsche Kettenhunde auf den Bauernhöfen dürfen sie auch nie ansehen, sagt Mutter. Otto spürt, wie sein Hals warm wird, auch seine Geschwister erstarren.

„Ab in den Gang, raus hier!“

Jetzt gilt es, möglichst schnell aus Vaters Blickfeld zu verschwinden. Otto lässt sich vom Bett gleiten und schiebt Dina vor sich her. Aber er ist zu langsam, Vater hält ihn blitzschnell mit seiner Klaue fest. Otto spürt, wie sein Oberarm zu Mus zerdrückt wird. „Dich behalte ich im Auge“, sagt er. Zum Glück versucht Mama in diesem Moment, etwas zu sagen, und der Griff um seinen Arm lockert sich.

Im Gang riecht es nach Schwimmbad, der Fußboden ist glatt. Zusammen mit Ernst und Ferry nimmt Otto Anlauf, um über das Linoleum zu schlittern. Dinas Hand hält er noch immer gut fest, aber sie fällt hin und fängt an zu weinen. „Nicht weinen!“, ruft Otto verzweifelt. Eine Krankenschwester beugt sich zu ihm und fragt, wie alt er ist.

„Sechs!“, ruft er stolz. „Wir holen Mama ab.“

Die Krankenschwester nickt und schaut zu Ottos Geschwistern, die sich still auf eine Bank gesetzt haben. „Ihr seid aber wirklich sehr viele“, sagt sie. „Und wer hier liegt, wird nicht mehr abgeholt.“

Otto sieht sie misstrauisch an. Dina quengelt und zupft an seinem Arm.

„Bleibt sie hier?“, fragt Otto ängstlich.

Die Krankenschwester seufzt.

           Nur Dinge, die wirklich kaputt sind, werden nicht abgeholt, denkt Otto. Das hat er von Vater gelernt.

           „Kommt Mama mit?“, fragt Janna, Ottos älteste Schwester, als Vater aus dem Zimmer tritt.

           „Ihr habt sie so angestrengt, dass sie noch eine Weile bleiben muss“, sagt er.

           Er hebt Dina auf seine Schultern, als sie zum Ausgang gehen. Otto rennt schnell noch einmal in Mutters Zimmer, sie liegt auf der Seite und lächelt, als sie ihn um die Ecke schauen sieht.

           „Mama, bist du kaputt?“, fragt er.

           „Wie kommst du denn darauf, meinSchatz?“

Jetzt erst fällt Otto auf, wie groß ihre Augen geworden sind.

           „Lauf nur schnell zu deinem Vater, bevor er merkt, dass du fehlst.“

           Der Mann neben seiner Mutter liegt noch genauso da. Er wird tot sein, denkt Otto. Er ist sich sicher.

 

Nach dem Tod der Mutter wird Otto zu einer Tante und einem Onkel gebracht, wo er es gut hat, und nicht ins Kinderheim, ein ausdrücklicher Wunsch der Mutter. Später heiratet der Vater eine Frau namens Albertina, die zwei Kinder (Robin undAleida) mit in die Ehe bringt, und Otto und seine Geschwister kehren zurück in die Familie.

 

S.37-38

SONNTAGSKEKSE

[…]

Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes ist Albertina sofort wieder schwanger geworden, dieses Mal von Zwillingen. Ottos Schwestern werden ständig eingeschaltet, um bei der Wäsche zu helfen, beim Einkaufen, Kochen und Putzen. Sie behalten fastkeine Zeit mehr für die Schule übrig. Vater sagt, das sei nicht so wichtig,schließlich gehen sie später doch alle zur Haushaltsschule. Die Jungen besuchendie technische Hauptschule und brauchen zu Hause nicht zu helfen.

Nach der Messe trinken sie Tee und jedesKind bekommt einen Keks, während Albertina aus der Bibel vorliest. Manchmalsind es schöne Geschichten, bei denen Otto wegträumen kann.

           Dina versucht, auf Albertinas Schoßzu klettern, aber sie wird auf den Boden gesetzt. Auf diesem Schoß ist nur Platz für ihre eigenen Kinder, um die ihres Mannes kümmert sie sich immer weniger.

           Als Vater die Keksdose öffnet undsieht, dass sie nahezu leer ist [die Übeltäter sind Robin und Aleida, AK] platzt er fast vor Wut. Aleida sagt sofort, Otto habe das getan. Vater steht auf und fängt an, ihn wild durchzurütteln, als erwarte er, dass die Kekse aus seinem Körper fallen.

„Deine Mutter hat dich viel zu sehr verwöhnt“, schnaubt er und schlägt Otto mit der flachen Hand ins Gesicht. Otto spürtTränen aufsteigen, nicht so sehr wegen der Ohrfeige, sondern weil er an seineMutter denken muss. Unter dem Tisch ballt er die Fäuste, während Aleida ihn unbewegt anstarrt.

           Vater nimmt das Sambalglas von der Anrichte und schiebt einen ganzen Löffel voll in Ottos Mund. Weitere folgen. Anfangs geht es noch, aber schon bald brennt alles in seinem Mund, seinem Hals, seiner Nase, und schließlich auch in seinen Lungen und seinem Magen. Otto würgt, aber der Löffel kommt immer wieder.

           „Das wird dir eine Lektion sein!“, sagt Vater, und als Otto die Lippen fest zusammengepresst, schlägt er ihn so lange,bis er den Mund wieder öffnet. Tränen strömen über seine Wangen und aus seinem Mund quillt roter Schleim.

           Albertina verlässt die Küche mit der Bibel unter dem Arm. Ottos Geschwister hocken zusammengekauert da und schauen. Otto starrt Aleida wütend an und wünscht sich, dass Augen Feuer speien könnten.Dann spuckt er einen dicken roten Klumpen auf ihre Hände.

 

Anne

 

S. 51-52

Plötzlich wird von allen Seiten an ihr gezerrt, die Gruppe hat beschlossen, dass sie ins Wasser soll. „Anne! Anne!“, rufen sie im Chor. Sie will Richtung Haus flüchten,aber Juha fasst sie um die Hüften und hebt sie zurück an den Kai, während die Mädchen ihr das Kleid über den Kopf ziehen.

           „Timo!“, ruft sie. Aber er ist nirgends zu sehen.

           „Nun seht euch mal diese rosaUnterwäsche an“, sagt ein Mädchen sarkastisch, „so niedlich.“

           „Sie ist ein Püppchen“, sagt Juha.

           Danach ziehen sie ihr auch die Unterwäsche aus und sie wird in den See geschubst. Das kalte Wasser nimmt ihr ein paar Sekunden den Atem.

           „Timo ist bei Veera“, hört sie Sipo noch sagen, kurz bevor sie unter Wasser verschwindet.

           Als sie wieder auftaucht, sieht sie die beiden fest umschlungen aus dem Haus kommen.

           Alles verschwimmt. Anne kneift sich die Nase zu und klettert vom Steg aus nach unten, soweit sie nur kann. Ertrinken ist jetzt das Beste, was ihr passieren kann. Sie will sich die Lungen volllaufen lassen. Dann sieht sie einen Schatten über das Wasser fallen und hört ihren Namen. Anne lässt sich an die Oberfläche treiben. Timo hilft ihr an den Kai. Sie prustet Wasser aus ihren Lungen.

           „Geht’s ein wenig?“, fragt er, während er sich ihren durchgefrorenen Körper mustert.

           Anne kreuzt die Arme vor ihren kleinen Brüsten. „Nein, es geht nicht“, sagt sie bibbernd.

           „Es stört dich doch nicht, dass ich heute Abend mit Veera bin? Wir teilen immer alles. Und ich glaube, dass du Juhasehr gefällst.“

           „Du tauscht mich aus?“

           „So solltest du das nicht sehen. Ich bin noch immer mit dir zusammen.“

           Anne zeigt ihm den Mittelfinger und zieht sich ihr Kleid über den nassen Leib.

           Timo kneift fest in ihre Hand, Anne hat Angst, dass ihr Mittelfinger bricht. „Du bist verrückt“, sagt sie und setztsich eine Flasche Salmiakwodka an den Mund. Der Lakritzgeschmack hat eine heilende Wirkung.

           Juha setzt sich neben sie und umarmt sie, um sie aufzuwärmen. „Du gefällst mir“, lallt er. „Und Timo hat es mir versprochen, im Tausch gegen Konzertkarten.“ Seine Hände wandern zu ihren Brüsten. „Komm mit“, sagt er dann und führt sie zum Haus. Er drückt sie aufs Bett und legt sich auf sie.

           Anne lässt ihn gewähren. Wenn sie den Kopf ganz nach hinten fallen lässt, kann sie die Bäume so gerade eben sehen. Wie Wächter umzingeln sie das Haus.

 

S.53-55

Otto

 

MURMELKÖNIG

Otto hat sich in den vergangenen Jahren gut mit dem Sommersprossenmädchen angefreundet. Er gibt damit an, dass alle Jungs in Renswoude ihn den Murmelkönig nennen, weil er so gut klickern kann. Und dass er auch am schnellsten Rad fahren und am besten Badminton und Schach spielen kann. Nur dasLetzte glaubt sie. Sie haben einen gemeinsamen Geheimplatz am Deich: einen ausgetrockneten Graben, über den sie ein Plastiksegel gespannt haben, gegen den Regen. Sie singen zu den Liedern im Radio, wie If you‘re going to San Francisco.

Das Sommersprossenmädchen flicht Blumenkränze, die sie sich aufsetzen. Sie ist das erste Mädchen, mit dem Otto tanzt. Er bewegt sich geschmeidig und athletisch. Sie ahmen die Bilder aus dem Fernsehen nach, von Hippies, die sich frei bewegen und trotzdem auch zusammen sind. Wie in Ektase. Sie tanzen auf dem Deich, Kay [die zahme Krähe, die sehr wichtig fürOtto ist, AK] hält über ihnen Wache. Wenn jemand in ihre Richtung kommt, zieht er hektische Kreise.

An diesem Ort sticht sich Otto sein zweites Tattoo, mit einfachen Linien zeichnet er zwei Figuren, Hand in Hand,darunter das Wort LOVE. Sie träumen davon, nach San Francisco oder Amsterdam zu gehen, aber das Sommersprossenmädchen wird bald aufs Internat kommen. Ihre Eltern haben Angst, sie könne sonst auf die schiefe Bahn geraten. An ihrem letzten Tag zusammen gibt sie Otto einen langen Kuss, ihr Mädchenmund fühlt sich weich an und Otto wird schummrig. Siesagt, er solle nicht auf sie warten, sondern möglichst schnell von hier weggehen.

 

Inzwischen hat Otto noch einen Halbbruder bekommen. Die Kinder sind anders als Ottos eigene Geschwister, sie weinen mehr, sind aufbrausender und lassen sich leichter zum Narren halten. Ferry sagt, das käme, weil sie nicht die Überlebenskraft ihrer eigener Mutter besäßen. Wenn Albertina nicht in der Nähe ist, hält Vater seine jüngsten Söhne kopfüber an den Füßen fest und ruft, dass Jungs nicht weinen. Aber die solide Arbeit hebt er sich für sein erstes Nest auf. Ottos Halbbrüdern gegenüber ist er etwas sorgsamer, vielleicht, weil Albertina ihn sonst verlassen würde. Wenn die Jungs einen Wutanfall bekommen, ruft er nach ihr, um sie zu trösten. Denn trösten, das kann er nicht.

 

‘MAMA’

Janna geht jetzt zur Haushaltsschule, sie lernt, noch besser zu waschen, zu bügeln und zu kochen, und wie sie sich als künftige Ehefrau zu verhalten hat. Dass sie aufrecht am Tisch sitzen muss, ohne sich auf die Ellenbogen zu stützen. Ab und zu korrigiert sie Otto und seine Brüder, die sich wie hungrige Wölfe benehmen.

Albertina kümmert sich kaum um sie. Sie sorgt dafür, dass drei Mal am Tag Essen auf dem Tisch steht, mehr kann keiner von ihr erwarten. Sie hat mehr als genug mit ihrer eigenen Brut zu tun und damit, Vater ein wenig bei Laune zu halten.

Regina spricht allmählich immer mehr mit Gott, und immer weniger mit Menschen.

Ferryund Ernst stecken ständig zusammen und machen geheime Experimente. Otto verbringt die Zeit vor allem mit seinen Schwestern.

Eines Morgens legen seine Brüder ein totes Küken in Dinas Bett. Zum Erstaunen aller fängt sie nicht an zu kreischen,sondern kuschelt mit dem toten kleinen Körper. Sie streichelt das gelbe Fell und drückt es fest an sich. Sie nennt das Küken „Mama“ und versteckt es sogar in ihrem Rucksack, als sie zur Schule geht. Nach ein paar Tagen wirft Janna den steifen Leichnam weg, weil er anfängt zu stinken.

Anne und Kirsi fliegen nach Amsterdam. Mit ihrem ausgezeichneten Abitur hat ihre Mutter Anne für das Medizinstudium angemeldet, obwohl Anne lieber zur Schauspielschule oder Kunstakademie möchte. Anne gibt vor, zwei Wochen Ferien machen zu wollen, aber für sie ist es ein Abschied für immer; sie will in Amsterdam bleiben.

 

 

S. 72-73

TEIL 2

Anne

 

Sie nehmen den Zug zum Amsterdamer Hauptbahnhof. In Finnland sollen sich Fremde nicht miteinander einlassen, alle schauen argwöhnisch, als würde man mit dem Feind unter einer Decke stecken. Hier lacht man sich glückselig an. Anne fühltsich wie ein Kind, das zum ersten Mal in Linnanmäkiist. Durch die spielerische Energie fühlt sich die Stadt an wie ein Vergnügungspark.

Als sie aus dem Bahnhof kommen, landen sie in einer Gruppe fröhlich singender Menschen. Das Mantra wirkt ansteckend. „Hare hare, rama, rama“, singen sie.

„In Amsterdam ist alles möglich“, sagt Kirsi und klatscht zur Musik in die Hände. Wie immer schafft sie es schließlich, auch Anne mitzureißen. Über ihnen hängt drohend die Sonne, wie ein Habicht, der jeden Moment zuschlagen kann.

Als die Gruppe weiterziehen will, entdeckt Anne, dass ihr Koffer verschwunden ist. Ihren Rucksack mit ihrem Ausweis, Tagebuch, ein paar Kleidungsstücken und Geld hat sie noch, aber der Rest ist weg. Ein Krishna in blassrosa Tunika hilft ihr bei der Suche auf dem Bahnhofsvorplatz und warnt sie, sie sollen gut auf ihre Sachen achtgeben, dieJunkies hier nähmen einfach alles mit. „Stehlen schadet dem Karma, die bekommen ihre Strafe schon noch.“

„Das hilft mir jetzt nicht“, jammert Anne.

Der Krishna legt einen Arm um sie, sie brauche doch nichts, um erleuchtet zu werden, sagt er und lädt sie ein, im Tempel zu übernachten.

 

Alle Wände sind schneeweiß gestrichen, allerlei Bilder vom Gott Krishna hängen dort und überall stehen Blumen. Es riecht würzig und sauber. In einem offenen Raum sitzt eine Gruppe Jugendlicher auf Kissen und meditiert. Anne hat das Gefühl, hier nur flüstern zu dürfen. „Wie spirituell bist du?“, fragt sie Kirsi.

„Wenn ich was getrunken habe, kann ich äußerst spirituell werden“, flüstert sie zurück. Sie müssen lachen. Sie lassen ihr Gepäck zurück und gehen zum Vondelpark.

 


 

S. 79-81

 

Anne

 

„Wollt ihr eigentlich wissen, was ich den ganzen Tag mache?“, fragt Ron.

„Warten, bis alles vorbei ist.“

KiraWuck, Noodlanding (Notlandung)

 

NEUE FREUNDE

Sobald sie den Vondelpark betreten, riechen sie Haschisch. Das Versprechen von Abenteuer prickelt auf ihrer Haut. Anne sieht die schönen Menschen von den Fotos, die sie in ihrem Tagebuch bewahrt hat. Sie liegen auf Decken, kämmen sich gegenseitig die Haare, haben Sex oder schlafen. Sie müssen nicht Medizin studieren, keiner verlangt was auch immer von ihnen. Schon bald finden sie Anschluss bei einer Gruppe.

           „Seid ihr neu hier?“, fragt ein Mädchen mit auffällig langen blonden Haaren. Sie bewegt den Oberkörper ständig sanft hin und her, wie ein Strauch im Wind.

„Es ist, als wären wir neu geboren“,erwidert Anne.

„Dann lasst uns eure Wiedergeburt feiern“,sagt ein junger Mann mit schwarz gefärbten Haaren, Schnurrbart und strahlend blauen Augen. Er starrt Anne unverwandt an und stellt sich als Ron vor. Richtig gut sieht er nicht aus, aber er ist besonders charismatisch. Man muss ihn einfach anschauen, obwohl man keine Ahnung hat, was genau man in seinem Blick zu entdecken hofft.

„Ja, lasst uns unsere neuen Freunde umarmen“, sagt das Mädchen. Ron füllt eine leere Bierflasche mit Wasser aus demTeich, in dem sich ein paar Hippies waschen. Plötzlich zieht er grob an Annes Zöpfen, wodurch ihr Kopf nach hinten gezogen wird. Sie liegt da wie ein Schaf auf dem Rücken, nicht fähig, sich aus dieser Haltung zu befreien. Wie ein Schamane sprenkelt Ron ein paar Tropfen über sie. Das Wasser ist kalt und Anne schreit kurz auf. Danach ist Kirsi an der Reihe und es wird geklatscht.

„In dieser Stadt kann jeder neu anfangen“, sagt Ron. „Von Zuhause abgehauen?“

Anne staunt, dass er das einfach so errät. Ron zieht sie näher an sich und Anne geht mal davon aus, dass es hier normal ist, so schnell Körperkontakt zu haben, also lässt sie es zu. Sie fühlt sich auf seltsame Weise sicher in seiner Gegenwart.

           Ron erzählt, er habe ein Haus mit drei Etagen besetzt, in dem er mit mehreren Leuten wohnt. Er gibt ihnen die Adresse, falls sie einen Schlafplatz brauchen.

           Anne kann sich gut mit ihm unterhalten. Seiner Ansicht nach ist es gut, wenn Kinder sich erst einmal völlig von ihren Eltern lösen, um sich in der Freiheit entwickeln zu können, die sie brauchen. Eltern verstehen das nicht. Anne bekommt das Gefühl, dass er sieht, wer sie wirklich ist und weiß, was sie braucht, obwohl sie das selbst kaum noch weiß.

           „Das Universum hat uns zusammengebracht, Anne“, brummt er ihr ins Ohr. Sein schwarz gefärbterSchnurrbart kitzelt an ihrem Hals. Als das Haschisch seine Wirkung entfaltet, seht sich Anne danach, sich wie eine schnurrende Katze zusammenzurollen. Sie legt sich auf den Rasen, schaut zu dem sich allmählich dunkler färbenden Himmel, der wie eine Decke über sie fällt, das ist noch so viel besser als sie sich ausgemalt hatte. In dieser Stadt kann sie endlich sie selbst sein.

 

S. 106-110

Anne & Otto

 

Finnisches Mädchen

[…]

Ander Ecke der Molukkenstraat sehen sie Gritto, der ein Mädchen anschreit. Sie hat auffällige, hennarote Haare und eine schmale Taille. Alle hier in der Gegend kennen Gritto, mit dem Riesenkreuz um den Hals, das Gold glänzt im Abendlicht. Wenn er jemanden verprügelt, trägt er das Kreuz immer auf dem Rücken, damit Gott es nicht sieht, schließlich bleibt er ein Gentleman.

Gritto sieht sich selbst als Erlöser,der anderen mit dem besten Horse, das man sich nur wünschen kann, eine Reise gen Himmel besorgt. Er nährt auch die Hungrigsten, die buchstäblich nicht mehr besitzen als die Unterhose, die sie am Leib haben. Gritto weiß, dass auch die Eltern säumiger Zahler in Herrenhäusern leben, wo, wenn es wirklich sein muss, durchaus etwas zu holen ist. Manchmal bedürfen sie ein wenig Ansporn, bei der eigenen Familie einzubrechen, aber meist kehren sie mit Stereoanlagen, Schmuck und Geld zurück, während Gritto draußen im Auto auf sie wartet.

Gritto trägt einen violetten, glänzenden einteiligen Hosenanzug, aus dem seine Brusthaare nachdrücklich hervorspringen, und wodurch es einen Moment dauert, bevor man seine drohenden Gebärden dem Mädchen gegenüber ernst nehmen kann. Aus der Ferne ähnelt eher einem Zirkuskünstler, der sich abmüht, einen unwilligen Löwen springen zu lassen. Der Löwe ist das rothaarige Mädchen. Ihre blasse Haut hebt sich scharf von ihren hennaroten Haaren ab. Sie sieht nicht aus wie ein Junkie, denkt Otto, sie hat noch zu viel Babyfett auf den hohen Jochbeinen.

„Geh weiter“, sagt Ron, „ich kenne sie, sie ist eine Katastrophe.“

Otto sagt, er würde doch kurz schauen, und Ron folgt ihm in einigen Metern Abstand.

„Easy Riders“, sagt Gritto, als er sie ankommen sieht.

Das Mädchen dreht sich blitzschnell um, sodass Gritto ihr Gesicht knapp verfehlt, aber dann erwischt er sie doch noch voll am Kopf. Sie fällt nach hinten, krümmt sich und hält sich die Hände schützend vors Gesicht. Wieso sitzt sie da noch, denkt Otto, sie sollte machen, dass sie wegkommt.

„Warum um Himmelswillen schlägst du einMädchen?“, fragt Otto. „Was hat sie dir getan?“

„Misch dich da nicht ein, Amigo.“

Gritto greift nach ihren Haaren und drückt ihren Kopf herunter.

„Lass sie in Frieden“, ruft Otto möglichst ruhig, aber von innen kocht er.

Ron hat inzwischen das Weite gesucht. Gritto macht eine Geste, auch Otto solle sich lieber davon machen.

Please,help me“, fleht das Mädchen. Sie hat einen seltsamen Akzent und eineStimme, die so zerbrechlich klingt, dass sie ihn an Seerosen erinnert, die einen verführen wollen, über sie zu gehen.

Ineed my stuff, upstairs“, sagt sie.

„Gritto“, sagt Otto, „lass sie ihre Sachen holen und wir machen dir keinen Ärger mehr.“

Otto sieht, dass die Haustür offensteht und steuert darauf zu.

„Okay“, sagt Gritto und lässt sie endlich los. Inzwischen stehen immer mehr schaulustige Nachbarn da. Gritto geht mit dem Mädchen ins Haus und schiebt sie grob die Treppe hinauf. Otto folgt ihnen. In ihrem überfüllten Zimmer stopft sie rasend schnell ein paar Kleidungsstücke und ein Buch in einen großen Rucksack. Den Rest lässt sie zurück.

Whereare you from?“, fragt Otto. Jetzt erst sieht er den Blutstrahl, der an ihrer rechten Schläfe hinab rinnt.

Finland. The land of a thousand lakes.“

Otto muss kurz nachdenken, wo Finnland liegt, er hat noch nie davon gehört. Als könne sie seine Gedanken hören, sagt sie: „In Finland everything is frozen.“

So,let’s not go there“, sagt Otto.

Dann greift er ohne nachzudenken ihre Hand und zieht sie aus dem Raum. „We need to go out.

Als sie nach draußen wollen, blockiert Gritto die Haustür, die er abgeschlossen hat. „Hundert Gulden“, sagt er und hält die Hand auf.

„Wofür?“, fragt Otto.

For the food I gave her.’

She is not a dog that needs to be fed, and you know we don’t have that money. Nobody ever has.“

She needs to learn how to show some respect.“

 

Als die Polizei klingelt, muss Gritto die Tür öffnen. Freundlich sagt er, es gäbe kein Problem, lediglich ein Missverständnis. Was Otto und das Mädchen bestätigen, obwohl ihr das Blut jetzt vom Kinn tropft. Draußen gehen sie schnell zu der Zündapp. Das Mädchen schlingt die Arme fest um Ottos Taille,während sie aus der Straße fahren. Sie lehnt sich an Otto und seufzt vor Erleichterung. Aber mit seinem Auto nimmt Gritto die Verfolgung auf. Jetzt kann Otto sein neues Pferdchen im vollen Galopp preschen lassen und es enttäuscht ihn nicht. Als der Italiener dicht hinter ihnen ist, hupt er hektisch und versucht, sie von der Straße zu drängen.

Hold me tight“, sagt Otto, kurz bevor er scharf nach rechts biegt und über den Gehweg weiterfährt. In der Kurve werden sie beide ein wenig aus dem Sattel gehoben, die Zündapp schnellt wieder auf und schießt an der anderen Seite des Gehwegs auf die Straße. Vorläufig sind sie Gritto los.

Otto spürt ihre warmen Arme noch fester um seine Taille, und wie sich ihr Schweiß miteinander vermischt. Bluttropfenrinnen von ihrem Gesicht in seinen Nacken.

 

Als sie sicher bei Otto angekommen sind, steigt das Mädchen zitternd ab. „That was pretty cool“, sagt sie.

           Otto lacht verlegen. „We need to clean that up.“

 


 

S. 158-159

 

ENTWISCHEN

 

Annesucht ihre dreijährige Tochter, die sich gern unter dem Tisch oder dem Sofa versteckt. Sie versteht nicht, wie sie darunter kriechen kann; es ist kaum Platz da. Jane puhlt ein Rosinenbrötchen aus, das sie von Otto bekommen hat. „Mimi“, sagt sie, als fühle sie sich ertappt. Sie nennt ihre Mutter Mimi statt Mama.

           „Zeit für einen kleinen Mittagsschlaf“, sagt Anne und zieht ihr Kind unter dem Sofa hervor. Sie legt sie in ihr Bettchen, aber wie gewöhnlich starrt Jane sie mit ihren grünen neugierigenAugen wach an. Ihre Beinchen sind mit blauen Flecken übersät, weil sie oft über ihre X-Beine stolpert und überall rauf- und runter klettert. Anne schaut zärtlich auf die Beinchen, und sie hat jetzt schon Angst, wenn sie daran denkt, dass sie dieses Mädchen irgendwann wird gehen lassen müssen.

 

Otto und Anne können noch immer kaum über die Runden kommen, aber trotzdem sorgen sie dafür, dass immer genügend Gemüse, Fisch und Fleisch für Jane da ist. Manchmal essen sie selbst nur Brot, während ihre Tochter an frischem Gemüse knabbert. Sie lesen ihr viel vor. Otto kommt immer an Kinderbücher, und sonst denkt er sich selbst Geschichten aus. Anne genießt es, sich anzuhören, was er da alles erfindet. Er macht auch oft Musik mit Jane, dann spielt er Gitarre, bei der sie Geräusche macht und in die Händchen klatscht oder einen Tanz aufführt.

So sieht Glück aus, denkt Anne, aber sie hat Angst, dass sie es nicht durchhält, dass das Glück ihr entwischen wird. Denn es gibt immer noch Momente, da sie sich nach einem dunklen Raum sehnt, der ihr Leben übersichtlich macht und sie schon seit ihrer Kindheit im Griff hat. Anne hat mit einem Soziologiestudium angefangen, was ihr etwas mehr Selbstvertrauen gibt. Mühelos bekommt sie in allen Fächern gute Noten und hilft sogar Mitstudierenden beim Verbessern ihrer Essays, während Niederländisch nicht ihre Muttersprache ist.

 


 

TEIL III

172-177

KARMA

 

Mimi sonnt sich schon den ganzen Tag oben ohne, während sie sich das eine GlasWeißwein nach dem anderen einschenkt. Ab und zu sucht sie Abkühlung und klettert danach vom Meer aus auf einen Felsen. Sie ähnelt einer Meerjungfrau, die auf den Wellen treibt, italienische Fischer versuchen sie zu fangen. Ihre kleinen weißen Brüste heben sich gegen ihre gebräunte restliche Haut ab. Wie ein Seehund krieche ich an der Küstenlinie entlang, mit den Armen ziehe ich mich durch die Brandung. Als ich sehe, dass sie mich sucht, versuche ich mich extra klein zu machen, damit sie sich noch mehr anstrengen muss. Sobald sie mich entdeckt, winkt sie, wie Leute in Filmen Schiffen zuwinken. Erst als ich Hunger bekomme, gehe ich zurück. Mimi wird von italienischen Männern umringt,die ihre Handtücher den Tag über immer ein Stückchen näher an ihres geschoben haben. Hunger ist immer ein guter Grund, nach Hause zu gehen.

           Als ich fast vor Mimi stehe, schüttele ich meinen nassen Kopf. Ich weiß, dass sie die kalten Tröpfchen auf ihrem Rücken grässlich findet. Sie schreit auf. Die italienischen Männer schauen auf. Niemand wird meine Mimi jemals besitzen, aber wenn es jemanden gibt, der sie noch ein klein wenig hat, dann bin ich das. Sie wickelt mich stramm in ein Badetuch ein. Ich frage, ob es in der Wüste auch so heiß ist.

           „Viel heißer“, antwortet sie, „du würdest da wegschmelzen, meine süße Robbe.“

           „Ich will essen, Mimi“, sage ich und mache den Mund auf wie ein junges Tierchen. Sie muss lachen und zieht ein zerdrücktes Brötchen aus ihrer Tasche.

           „Das ist alles, fürchte ich. Aber gleich gehen wir irgendwohin.“

           Gierig greife ich nach dem Brötchen und fange an, daran zu zupfen.

           „Ich gehe ein letztes Mal rein“, sagt sie.

           Mimi lässt erst ihre leere Flasche unauffällig in einen Mülleimer gleiten und geht dann Richtung Wasser, als würde sie von einer Kraft gerufen, die außerhalb von uns liegt. Ohne die Füße zu heben, schwebt sie über den Sand.

           Ich nehme meinen Walkman und höre mir Dornröschen an. Wie es wohl wäre, so lange schlafen zu müssen? Was würde man in der Zwischenzeit nicht alles verpassen? Genau wie das Weltall, das es schon Milliarden Jahre gibt und nach uns auch noch da sein wird. Es macht mich immer traurig, wenn ich über die Zeit nachdenke, in der die Menschheit ausgestorben ist und sich das All still verhält, bis wieder etwas Lebendiges entsteht. Oft hält mich das stundenlang wach, es gelingt mir nicht, mir die Unendlichkeit vorzustellen.

           Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich Papa in der Ferne, mit einem Strohhut, den ich nicht kenne. Ihm fehlt die Geduld, den ganzen Tag am Strand zu liegen. Meist kehrt er am Ende des Tages mit besonderen Sachen zurück, die er gefunden hat. Jacken, Pullover oder Spielzeug. Die kleinen Handtücher mit den italienischen Männern darauf sind verschwunden.

Mimi steigt aus dem Wasser und geht Papa entgegen. Sie schaut träge, Vater zieht sie an sich und gibt ihr einen langen Kuss. Sie sehen aus wie Filmstars, die etwas wiedergutmachen müssen. Mein Magen zieht sich zusammen.

           „Hattest du einen schönen Tag?“, fragt Papa. Ich erzähle ihm, was ich mir alles ausgedacht habe, während ich an der Brandung entlang geschwommen bin.

           „Sehr gut“, sagt er.

           Wir setzen uns in ein Straßencafé an einem kleinen Platz. Mimi holt die Ansichtskarten hervor, die wir unterwegs gekauft haben.

           „Vielleicht möchtest du etwas daraufschreiben?“

           Ich male Sonnen auf die Karten für meine Oma und unsere Nachbarn.

„Und eine für Lucas?“, fragt Mimi und zwinkert mir zu, als Papa kurz zur Toilette ist.

Lucas ist mein Logopäde. Mimi schicktihm immer eine Karte, wenn wir irgendwo sind, sie ist die Einzige, die etwas darauf schreibt. Wenn er bei seiner Familie in Italien ist, schickt er manchmal eine zurück, aber ich verstehe nichts von dem, was darauf steht.

 

Während wir auf unser Essen warten, geht eine obdachlose Frau an allen Tischen vorbei. Als sie zusammengeduckt bei uns steht, rufe ich: „Pass auf, eine Hexe!“

           „Sei nicht albern“, sagt Mimi, „Hexen gibt es überhaupt nicht.“

           „Das sagst du so“, sagt Papa lachend. „Vielleicht ist sie ja wirklich eine, aber trotzdem brauchst du keine Angst vor ihr zu haben. Die meisten Hexen sind ungefährlich.“

           Die Frau murmelt etwas Unverständlichesund hält uns ihren Hut vor. Ihre Haut sieht aus wie Leder. Mimi seufzt und fischt eine kleine Fliege aus ihrem Weinglas.

           „Du solltest ihre lebhafte Fantasie nicht noch mehr ankurbeln“, sagt sie.

           „Nur mit Fantasie kann man überleben.“ Papa wirft ein paar Münzen in den Hut der Hexe, sie lächel tzufrieden. Danach gibt er auch noch ein Stückchen Brot dazu, aber das will sie nicht haben. „Für unser Karma“, sagt er.

           Mimi schaut unwirsch auf die Münzen in dem Hut. Sie sagt, wir hätten ohnehin schon so wenig Geld. Von diesem Betrag kann sie anderthalb Gläser Wein bestellen. Papa findet, sie solle nicht alles in Alkohol umrechnen.

           „So etwas wie Karma gibt es überhaupt nicht“, sagt sie.

           Ich stehe auf, um im Brunnen zuspielen. Da liegt eine ganze Schicht Kleingeld, ich könnte das Geld, das Papa gerade ausgegeben hat, einfach aufheben, damit Mimi wieder froh wird, aber ich traue mich nicht. Vielleicht setze ich dann den Wunsch von jemandem aufs Spiel, der ihn dringend braucht.

           Nach dem Essen gehen wir in eine Kirche und zünden dort Kerzen für die Toten an. Mimi denkt an ihren Halbbruder, der letzten Winter gestorben ist. Er hatte sich das Gewehr genommen, das sie benutzen, um Bären auf Abstand zu halten, wenn sie den Häusern zu nahe kommen, und war dann in den Wald gegangen. Opa wurde stutzig, weil er ohne Jacke rausgegangen war. Auf Pantoffeln folgte er ihm, aber er war nicht schnell genug. Der Schnee war so hoch, dass er bis zu den Knien darin versank. Außerdem hatte er schon etwas getrunken. Er verfluchte den hohen Schneefall und seine eisigen Füße. Zehn Minuten später hörte er einen lauten Knall, der die Luft zum Stillstand brachte. Der finnische Winter war fast vorbei, die Sonne würde gleich wiederkehren, aber das hatte nichts genutzt.

           „Selbstmord ist eine finnische Krankheit, die unsere Familie leider nicht verschont hat“, sagte Opa auf dem Begräbnis seines Sohnes. Danach wurde nicht mehr darüber gesprochen.

 

Papa setzt sich auf die hölzerne Kirchenbank, er sieht ein braunes Lederportmonee dort liegen. Langsam rückt er immer näher heran und stülpt dann seinen Strohhut darüber. Mimi und ich setzen uns neben ihn. Sie erzählt, die alten Damen seien Witwen und würden darum nur noch Schwarz tragen.

Als wir nach draußen gehen, nimmt Papa das Portmonee zusammen mit seinem Hut von der Bank. Wir nicken den Menschen, die wir passieren, freundlich zu. Draußen zeigt uns Papa das Portmonee und holt Papiergeld daraus hervor. „Karma“, ruft er, „Karma!“

Mimi muss lachen und tanzt um ihn herum. Ich ziehe das Portmonee zu mir und sehe mir die Fotos an. Ein Familienporträt steckt darin, drei Kinder mit dunklen Locken stehen vorne, die Eltern in der Mitte. Der Vater trägt einen guten Anzug und die Mutter sieht fröhlich und sanft aus. Sie sehen aus wie ganz normale Leute.

 

Autorin Kira Wuck: „Ich empfinde meine Kindheit nicht als so heftig“

Interview in der Zeitung „Het Parool“ von Marjolijn de Cocq am 10. 01.2021

In ihrem ersten Roman Knikkerkoning(Murmelkönig) erzählt Kira Wuck die Geschichte ihrer finnischen Mutter und ihres indonesischen Vaters, die sich in den Siebzigerjahren in ihrer Sehnsucht nach Freiheit im Vondelpark kennenlernten (nicht korrekt, sie lernen sich woanders kennen, AK).

Zwei Regeln hatte sie sich selbst auferlegt, als sie sich entschloss, einen Roman über ihre Eltern zu schreiben. Gleichzeitig ihr erster Roman, nach zwei Gedichtbänden und einem Erzählband, und das Thema war unausweichlich. Sie spürte schon länger das Bedürfnis, ihre Geschichte musste einfach erzählt werden. Regel Eins: Ich schone niemanden. Und Regel Zwei: Eine gute Geschichteist besser als die Wirklichkeit.

„Es sollte auch was Aufbau und Balance betrifft ein gutes Buch werden, also habe ich manche Sachen, die in Wirklichkeit schlimmer waren, weniger schlimm gemacht, oder auch weniger Schlimmes schlimmer. Da ist zum Beispiel die Geschichte meines Vaters über Brigitte Bardot. Er hat seinen Schwestern immer erzählt, er sei von ihr zu einer Party eingeladen worden. Es sei mal dahingestellt, ob das nun wirklich passiert ist. Mein Vater gab oft an. Er war der Beste im Murmelspiel, beim Schach- und Damespielen und was auch immer. Er hatte keine schöne Kindheit und Jugend, aber er erzählte immer schöne Geschichten.“

Kira Wuck ist die Tochter einer finnischen Mutter und eines Vaters mit indonesischen Wurzeln. Beide suchten ihr Heil im Amsterdam der Siebzigerjahre, einem Ort, an dem sie die Freiheit zu finden glaubten. Ihre Mutter ließ die haushohen Erwartungen ihrer dominanten Mutter hinter sich, ihr Vater das Joch eines unberechenbaren Vaters, ehemaliger Soldat in der Niederländisch-Indonesischen Armee, der es von allen Kindern aus seinen beiden Ehen vor allem auf ihn abgesehen hatte.

Wuck schreibt in ihrem dreiteiligen Roman über die Kindheits- und Jugendjahre von „Anne“ und „Otto“ und ihrer entgleisten Existenz; ihre letzten gemeinsamen Jahre werden aus der Perspektive von Tochter „Jane“ betrachtet, die ihre Mutter in die Verzückung abrutschen sieht, die Alkohol und Pillen ihr verheißen. Ihre Mutter starb, als Wuck elf Jahre alt war, ihr Vater fünf Jahre später (an Krebs, AK).

Oft zögere ich, einen Roman einfach„autobiografisch“ zu nennen. Aber Sie betonen diesen Aspekt selbst, unter anderem durch die beiden Fotos hinten im Buch: eines vom Hochzeitstag ihrer Eltern 1977 und einem Familienfoto, in dem Sie sich selbst beschreiben als „Jane (Kira)“.

„Ich habe die Fotos hinzugefügt, weil ich sie den Lesern gönnen wollte. Sie fügen etwas hinzu, weil mein Buch der Realität so nah ist. Ich habe allerdings gezweifelt, ob ich es auf den Markt bringen wollte. Ich finde, man muss da aufpassen; was für einen selbst interessant ist, braucht das für andere nicht zu sein. Aber ich fand die Geschichte meiner Eltern besonders genug, um nicht nur für mich selbst zu behalten. Außerdem erweise ich ihnen hiermit auch Ehre.“

Ich fand Ihr Buch mitunterherzergreifend; den Rand der Gesellschaft, an dem Ihre Mutter in Amsterdam landet, den Terror des indonesischen Vaters in dieser großen strenggläubigen Familie in diesem konservativen Dorf. Aber auch, was Sie angeht: ein so kleinesMädchen, das so viel vom Elend ihrer Eltern mitbekommt.

„Es mag seltsam klingen, aber selbst habe ich das nicht als besonders heftig empfunden. Meine Kindheit war doch vor allem sehr abenteuerlich. Wir gingen oft völlig spontan auf Reisen, wenn das Geld alle war, mussten wir trampen und am Bahnhof oder am Strand schlafen. Ich fand es spannend, wohin es uns jetzt wieder verschlagen würde. Ich sehe mich ganz sicher nicht als beschädigtes Kind, sondern eher als street smart.“

„Für mein Buch fand ich es vor allem interessant, eine Art Zeitgeist zu präsentieren, in dem noch nicht alles vorgekaut war. Ich finde es jetzt manchmal sehr engstirnig. In dieser Zeit gab es viel mehr Anarchie, mehr Freiheit, mehr Zeit, sich selbst zu entfalten. Es war mehr Platz da für Menschen, die eigentlich nicht ins System passen.“

Sie beschreiben wie Ihr Vater Ihnen – Sie waren neun – erklärte, dass Ihre Mutter Alkoholikerin war. Damit bekamen Sie ein Wort für das, was Sie bereits sahen. Mich berührte Ihre nüchterne Antwort sehr: „Alle Mütter sind irgendwas. Jetzt weiß ich endlich, was meine Mutter ist.“

„Ich finde es sehr gut von meinem Vater, dass er sehr offen war, er wollte mir alles möglichst klar erzählen. Als sie sich trennten, vermisste ich meine Mutter. Sie gab mir, wenn sie da war, sehr viel Liebe, sie kuschelte ständig mit mir. Diese Liebe war wichtig. Aber ich wusste auch, dass sie keine Mutter sein konnte, die mich um neun Uhr zur Schule bringt und nachmittags wieder abholt.“

„Das wollte ich auch gar nicht. Sie sah sehr auffällig aus, mit ihren bunten Minikleidern, Pfauenfedern, Stiletto-Absätzen und viel Schminke. Ich glaube, für sie fungierte das wie eine zusätzliche Schicht der Außenwelt gegenüber. Sie war begabt, aber eigentlich auch sehr unsicher und ängstlich.Sie fiel auf, überall, wo sie auftauchte, aber man konnte ihr doch nicht so richtig nahe sein. Das sehe ich im Nachhinein viel klarer, damals war mir vor allem bewusst, dass sie ein wenig apart war.“

Wie ist es Ihnen gelungen, so viel über die Lebensgeschichte Ihrer Eltern herauszufinden?

„Ich habe gut vier Jahre an diesem Buch gearbeitet und dem Schreiben ist viel Research vorangegangen. Meinen Vater habe ich natürlich länger erlebt als meine Mutter, das macht einen großen Unterschied. Ich habe viele seiner Freunde finden können und mit seinen Geschwistern über die Herrschaft ihres Vaters gesprochen.“

„Darüber wollten sie durchaus reden. Ich spürte als Kind schon, dass etwas mit ihm war, ich vertraute meinem Opa nicht so. Ich habe ihn auch ein paar Mal besucht, um ihn zu interviewen, aber sehr viel habe ich nicht aus ihm herausbekommen. Vielleicht war ich nicht streng genug, ich sah einen starken, aber auch gebrochenen Mann.“

„Mein Vater wollte selbst nie darüber reden, obwohl ihm ab und zu mal etwas herausrutschte. Die „Sambalstrafe“ zum Beispiel: dass sein Vater ihn zwang, ein Glas Sambal leer zu essen.“

In Ihrem Buch lassen Sie das Sambal noch einmal zurückkommen: Dann bestraft sich Ihr Vater selbst wegen seines Unvermögens, Ihre Mutter zu retten.

„Ja, aber das ist erfunden. Wie schon gesagt: Eine gute Geschichte … Es passte hier so gut, er hat sich lange Zeit schuldig gefühlt darüber, wie es meiner Mutter ging. Er stand dem völlig machtlos gegenüber. Das ist für ihn sehr schwer gewesen.“

Ich stelle mir vor, dass es für Sie auch schwer war, sich so in die Vergangenheit zu vertiefen.

„Das stimmt, aber ich habe mich auch sehr gern damit beschäftigt. Es gab viel Archivmaterial: Briefe, aber auch das Tagebuch, das mein Vater geführt hat, er hatte drei Jahre vor meiner Geburt damit angefangen. Er konnte auch ziemlich gut schreiben. Er hatte wenig Schulbildung und machte viele Rechtschreibfehler, aber da ist ein gutes Gefühl für Melancholie drin. Damit hatte ich genügend Material über seine Beziehung mit Anna und die Freundschaft mit einem Typen wie dem Amsterdamer Ron, darüber, was sie taten und anstellten.“

„Es gefiel mir, aus den verschiedenen Perspektiven zu schreiben, und zuletzt eben aus der Perspektive von „Jane“, die ihre Eltern betrachtet. Ich war neugierig, wie das wirken würde, und ich glaube, es passt gut zu dem, wie ich als Kind dachte. Ich fand es auch schön, alles noch einmal zu erleben – obwohl das vielleicht ein wenig seltsam klingt, wenn man das Buch gelesen hat. Es hilft beim Relativieren, obwohl ich mir nicht bewusst war, dass ich das offensichtlich brauchte.“

Verstehen Sie ihre Eltern jetzt auch besser?

„Mein Buch handelt von den Fünfzigerjahren bis zu den Neunzigerjahren, das ist eine ziemlich lange Zeitspanne. Ich fand es wichtig für das Gesamtbild, auch die Kindheit und Jugend meines Vaters und meiner Mutter einzubeziehen –wie kann sich Erziehung auswirken, welche Entscheidungen trifft man selbst dabei? Mein Vater entschied sich dafür, optimistisch und leichtfüßig im Lebenzu stehen. Meine Mutter zerbrach am Leben, es gelang ihr einfach nicht. Aber sie hat immer etwas Ungreifbares behalten, etwas Mysteriöses.“

Haben Sie Ihr Buch darum mit den verschiedenen Arten, ihren Tod zu betrachten, beendet?

„Ja, das fand ich interessant. Weil niemand in ihren Kopf schauen konnte, niemand wusste, wie genau sie sich fühlte. Sie war an einem weniger guten Punkt in ihrem Leben angelangt, sie hatte gerade den falschen Lover erwischt … Ich habe ihn noch oft auf dem Rad rumfahren sehen, aber nicht mehr, seit ich mit dem Buch angefangen hatte. Ich finde es schade, dass ich ihm damals nicht meine Fragen gestellt habe.“

Insgesamt wird es schon großen Einfluss auf Ihre Entwicklung gehabt haben, darf man annehmen. Sie beschreiben auch, wie die Schule sich Sorgen machte, etwas „stimmte nicht“. Ihre Mutter hatte sich sogar auf den Weg gemacht, um ein psychologisches Handbuch anzuschaffen …

„Daran erinnere ich mich schon noch, dass das meine Mutter sehr beschäftigte. Sie wollte Tests mit mir machen und üben, während mein Vater eher die Meinung vertrat: Wenn sie nur glücklich ist. Erst als ich sechzehn war,wurde die Diagnose gestellt, dass ich extrem dyslektisch bin. Dass meine Rechtschreibung nicht gut war und ich nicht rechnen konnte in Kombination mit dieser nicht idealen Situation zu Hause hat in der Schule offensichtlich die Alarmglocken ausgelöst. Aber ich weiß noch, dass ich mich immer sehr gut allein in meinemZimmer vergnügt habe, ich konnte stundenlang nachdenken. Solange ich mich entsinnen kann, habe ich Geschichten im Kopf gemacht.“