Margot Vanderstraeten

Margot Vanderstraeten (1967) ist eine flämische Autorin und Journalistin, die 2017 für ihren Roman Mazzel Tov mit dem E. du Perron-Prijs 2017 ausgezeichnet wurde. Das Buch erschien in deutscher Übersetzung von Christiane Burkhardt bei Piper. Jahre zuvor (2014) schrieb sie den spannenden und wichtigen Roman Het Vlindereffect (Der Schmetterlingseffekt). Im Auftrag des Vlaams Fonds voor de Letteren (nun: Flanders Literature) habe ich ein Gutachten und Fragmentübersetzungen angefertigt, die Sie hier lesen können:

G U T A C H T E N

Margot Vanderstraeten, Het vlindereffect (Der Schmetterlingseffekt), Atlas/Contact

Umfang: 288 Seiten

Schlagwörter: Terrorismus, Zufall, Tod eines Kindes, Trauer, Indien, Armut, Reichtum, Armutsschere, Oberschicht

Inhalt

Der Roman besteht aus drei Teilen. Teil I ist sehr kurz und erzeugt sofort Spannung. Es ist der 23. November 2008 und Angela Gutmann, wohnhaft in Miami South Beach und Mutter eines fast dreiundzwanzigjährigen Sohnes namens Theo, ist fast auf dem Weg zum Flughafen. Dort wird sie das Flugzeug nach Indien (Mumbai) nehmen, um Theo zu besuchen, der dort gemeinsam mit seinem besten Freund Jacky ein Jahr ehrenamtlich arbeitet. Während sie auf das Taxi wartet, isst sie eine Apfelsine, an der sie sich fürchterlich verschluckt. Trotz diverser und sehr energischer Bemühungen gelingt es ihr zunächst nicht, das Obststückchen aus dem Hals zu bekommen und langsam, aber sicher wird die Luft zum Atmen knapp. So kurz vor ihrem vermeintlichen Tod beherrschen allerlei Gedanken und Erinnerungen sie. In allerletzter Sekunde schafft sie es, sich von dem quälenden Obststückchen zu befreien. Teil II spielt im Jahre 2018 und enthält Rückblicke auf 2008 sowie allgemeine Gedanken und Reflexionen. Angela Gutmann kehrt im Jahre 2018 – Hilary Clinton ist Präsidentin der Vereinigten Staaten – zurück nach Indien, ins Taj Mahal Hotel in Mumbai, wo sie zehn Jahre zuvor einen Terrorangriff überlebte. Am 26. November 2008 (der Angriff sowie die Namen und die Herkunft der Täter beruhen auf der Wirklichkeit) stürmten schwer bewaffnete junge Männer das Fünf-Sterne-Hotel und schossen wahllos auf die Gäste und das Personal. Angela arbeitete seinerzeit als ‚Mystery Guest‘, also als Hotelinspektorin, und kombinierte ihre Arbeit mit dem Besuch ihres Sohns Theo und Jacky. Nur widerwillig hatten die Jungen einem Treffen im Taj Mahal zugestimmt. Das Hotel für die Reichsten der Reichen ist für sie als sozial Engagierte von schier unerträglicher Dekadenz. Später wollen die beiden allerdings gemeinsam mit den Eltern Gutmann ein gutes Hotel gründen, sind also ursprünglich auch eher der Oberschicht verpflichtet. Die Jungen sitzen entspannt mit Angela beim Cocktail, als plötzlich bewaffnete Terroristen das Hotel stürmen und ein Massaker veranstalten.

Angela schleppt sich mit dem schwer verletzten Theo durch das Hotel, in dem überall Leichen und Verletzte liegen. Gemeinsam mit ihrem Sohn versteckt sie sich in einer Abstellkammer . Der Anschlag im Taj Mahal wird zunächst aus Angelas Perspektive erzählt, wir sind als Leser sehr hautnah mittendrin im Horror. Dann wechseln Ton und Perspektive und es folgt eine eher sachliche bis leicht philosophischen Schilderung der Geschehnisse im Nachhinein. Was die Tatsachen angeht, erfahren wir als Leser nun den genauen Hergang, was genau ist passiert, wer waren die Täter (pakistanische Terroristen von Lash-kar-e-Taiba, verbunden mit Al Qaida, die die gesamte Stadt drei Tage lang terrorisierten, und zwar mit mehreren, zeitgleich erfolgten Anschlägen), wie reagierten Medien und Regierung und was geschah mit den Tätern. Teil III spielt sich auf Angelas vierstündigem Rückflug von Mumbai nach Abu Dhabi im Jahre 2018 ab. In diesem Teil erhalten alle Puzzlestücke ihren Platz.

Die nüchterne und pragmatische Angela sitzt neben der etwas abgedrehten Jane, die ihre Flugangst bekämpfen will, indem sie Angela bittet, ihr aus ihrem Leben zu erzählen, und zwar anhand einiger Fragen auf parapsychologischen Karten. Angela beantwortet die Fragen mit langen Erinnerungen in Form eines Zwiegesprächs mit Theo. In diesem Teil des Buches erfahren wir endlich, was genau Angela, Theo und Jacky persönlich erlebt haben. Außerdem lernen wir sowohl Angela als auch Theo gut kennen, es gibt Erinnerungen an ihn als Baby, als Kleinkind, als Jugendlichen. Lange Zeit spüren wir als Leser zwar am Verhalten von Angela, dass Unheil geschehen sein muss, dürfen aber ebenfalls lange davon ausgehen, dass sich der verletzte Theo im Krankenhaus gut zu erholen scheint. Nach und nach erst lesen wir, was geschehen ist. Nach der Lektüre von Teil II wissen wir nur, dass Theo schwer verletzt war oder sogar tot, dass Angela wahrscheinlich eine leichtere Verletzung davon getragen hat, und dass Jacky beschossen wurde. Erst jetzt erfahren wir, was genau passiert ist: Michael, Angelas Mann und Theos Vater ist seinerzeit nach dem Anschlag auch nach Mumbai gekommen und das Ehepaar erwartete, die ihnen verhasste Stadt innerhalb weniger Tage gemeinsam mit ihrem Sohn verlassen zu können, sobald Theo transportfähig wäre. Als sie ihn jedoch abholen wollten, war er am Morgen einer Lungenembolie erlegen. Jacky war verschont geblieben und Angela hat eine schwere Knieverletzung davongetragen.

Angela geht fast zugrunde an ihren Schuldgefühlen und ihrer Trauer. Während Michael sich auf seine Arbeit stürzt, sehr viel Geld verdient und sich gemeinsam mit Jacky vom Schreibtisch aus für indische Kinder einsetzt, denkt sie fortwährend darüber nach, was sie anders hätte machen können, wer Schuld trägt, welche Vorzeichen es für die Katastrophe gegeben hat und wie letztendlich alles im Leben mit allem verbunden ist (eben der Schmetterlingseffekt, ein Begriff aus der Chaostheorie, nach der zum Beispiel der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann).

Kommentar

Nachdem ich mit der Lektüre angefangen hatte, wollte ich in dem Buch weiterlesen und empfand das Leben außerhalb des Romans als mehr oder weniger störend. Die Geschichte ist unsäglich spannend. Das ist nicht nur den Ereignissen an sich und der Thematik geschuldet, sondern auch dem Aufbau des Romans, der cleveren Dosierung der Informationen und dem detailreichen und packenden Stil der Autorin.

Die Thematik lässt sich übrigens nicht eindeutig feststellen. Terrorismus spielt natürlich eine wichtige Rolle. Die Autorin deckt narrativ sehr überzeugend den Mechanismus auf, dass eine bestimmte Form des Terrorismus nicht aufhören wird, so lange es so viele Menschen gibt, die sich als Kanonenfutter eignen, weil sie so arm sind und so wenig Chancen haben, dass sie einfach nichts zu verlieren haben. Dies gilt etwa für die Mumbai-Terroristen, die aus pakistanischen Bergdörfern stammten, Analphabeten waren und kaum etwas über den Koran wussten, sie waren selbst keine Extrem-Islamisten, sondern Handlanger intelligenter, gut ausgebildeter Fanatiker.

Bestimmt wird es aber auch Leser geben, die andere Aspekte des Romans wichtiger finden, und ihn eher als Geschichte über Verlust, Zufall, der Unausweichlichkeit des Schicksals und Trauer lesen. Auch das ist eindeutig möglich; die Autorin drängt niemandem ihre Meinung auf – es gibt mehrere Lesearten.

Politisches und Persönliches wird hier zu einem klug komponierten Ganzen verwoben, und zwar in einer Weise, die sich dem in Deutschland doch noch ein wenig üblichen Unterschied zwischen E- und U- Literatur elegant entzieht.

Margot Vanderstraeten ist in Flandern eine viel beachtete Journalistin, die sehr gut schreibt, weiß, wie man Research betreibt und vor allem auch, wie man Research-Ergebnisse so einfließen lässt, dass sie nicht stören, sondern zu Literatur werden. Sie dosiert ihre Informationen wie eine versierte Krimi-Autorin, spielt ein intelligentes Spiel mit dem Leser, findet oftmals feine Bilder, besitzt ein großes psychologisches Einfühlungsvermögen und hat einen Blick für aussagekräftige Details. Zudem sind ihre Figuren großartig ausgearbeitet, sogar Theo und Michael, die wir nur aus Angelas Perspektive sehen und die kaum aktiv handelnd auftreten, sind erstaunlich komplex. Das mag an Angela liegen, die – besonders im dritten Teil – schillernd und gnadenlos ehrlich erzählt (obwohl sie Jane anlügt). Der Schmetterlingseffekt ist ein überaus kluger und mehrschichtiger Roman, in dem es wirklich um etwas geht, geschrieben in einem packenden, oftmals leicht ironischen und klaren Stil.

Nachdem ich das Buch in einem Rutsch ausgelesen hatte, ist es mir tagelang nicht aus dem Kopf gegangen, ich halte den Roman für eine echte Entdeckung und möchte ihn sehr empfehlen. Meiner Meinung nach ist Der Schmetterlingseffekt ein großes und aktuelles Buch fürs breite Publikum.

Der Titel hat internationale Allüre, er liest sich nicht nur ob des amerikanischen und indischen Settings und der amerikanischen Figuren wie ein Roman aus dem angelsächsischen Sprachgebiet – das Lesegefühl, wenn man das so sagen kann, ist eher ein angelsächsisches. Die Übersetzung des Romans wird im Prinzip vom Vlaams Fonds voor de Letteren gefördert, siehe http://buitenland.vfl.be/en/content/126/translation-grants.html.

Der Schmetterlingseffekt ist der vierte Roman der Autorin und wurde – so weit ich sehen kann – ausnahmslos positiv besprochen. Im Folgenden einige Pressestimmen und in einer gesonderten Anlage einige übersetzte Textstellen. Obwohl im Roman keine Engel vorkommen, besitzt Vanderstraetens Roman unverkennbar die Qualitäten von Die Entdeckung des Himmels. Vanderstraeten steht ihren Mann neben Harry Mulisch, darüber ist kein Zweifel möglich. - Athenaeum Boekhandel In ihrem neuen Roman beweist Margot Vanderstraeten, dass sie eine ausgezeichnete Journalistin und Romanautorin ist. (…) Eine außergewöhnlich schön komponierte Geschichte. – De Morgen Margot Vanderstraeten gehört zu den unterschätztesten flämischen Romanautoren. Schon wegen ihrer Kunst, so treffsicher zu formulieren, ist Vanderstraeten lesen ein himmlischer Genuss. - Knack Ein bärenstarker Anfang. (…) Das erste Kapitel habe ich fast ohne Atem zu schöpfen gelesen. Ich wusste sofort: Das ist gut. – Marleens boek van de week Het vlindereffect enthält viele Flügelschläge, die in den Köpfen der Leser große Turbulenzen verursachen. Sie heben das Buch auf ein hohes literarisches Niveau. - Hebban.nl Großartig strukturierter Roman über ein sehr aktuelles Thema (...) Die Autorin zeichnet sich durch ihre Personenentwicklung aus. - J. Hetebrij, NBD Biblion Margot Vanderstraetens Stil wird gnadenlos genannt. Sie zeichnet sich durch ihre Treffsicherheit und die Genauigkeit aus, mit der sie ihre Personen schildert. - De Letterschuur Überaus intelligent aufgebauter psychologischer Roman. - Boekenbijlage.nl Fragmentübersetzungen Textproben aus: Het Vlindereffect (Der Schmetterlingseffekt) von Margot Vanderstraeten, Atlas/Contact 2014

Übersetzung: Andrea Kluitmann Aus Teil I

Motti und Buchanfang bis S. 17

Der Begriff Schmetterlingseffekt stammt aus der Chaostheorie. Edward Lorenz, amerikanischer Mathematiker und Meteorologe, stellte 1961 fest, dass geringfügig veränderte Anfangsbedingungen im langfristigen Verlauf durch verstärkende Umgebungsfaktoren zu maximalen Veränderungen führen. Mit anderen Worten:„Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen.“

- Wikipedia und andere Online-Quellen

Menschen, Tiere, Städte und Dinge, alles ist erdacht. Dies ist ein Roman, eine ganz und gar fiktive Geschichte.

– Louis-Ferdinand Céline

SONNTAG, 23. NOVEMBER 2008

MIAMI SOUTH BEACH

Natürlich wäre ich am liebsten zusammen mit Michael nach Mumbai geflogen. Aber im November und Dezember sind die Hotels am South Beach voll, und mein Mann sagt, dann sei er bei der Arbeit unabkömmlich, und wenn er das sagt, wird es wohl stimmen.

Ich habe noch eine gute Viertelstunde, bis das Taxi kommt. So eine Viertelstunde, in der man nicht weiß, was man anfangen soll, die man am liebsten überspringen würde.

Erst schaue ich mir die Zeit an. Wie sie, auf dem Dach der Bank of America, jede Minute vertickt. Schnell zeigt sich, dass das keine gute Idee ist; wenn man der Zeit zusieht, dauert sie plötzlich so lange.

Ich nehme meinen Laptop. Tippe ein wenig darauf herum, klappe ihn dann aber wieder zu und stecke ihn zurück in mein Handgepäck. Ich überprüfe meine Reisepapiere zum zigsten Mal. Ich tusche mir die Wimpern, die ich an diesem Tag schon ein paar Mal nachgetuscht habe. Ich nehme mir eine Apfelsine von der Anrichte, löse den Sticker von dem Obst, das ich noch kurz abreibe, bevor ich es schäle. Der Saft spritzt mir genau in die Augen, die zu tränen anfangen. Ich pule das weiße Häutchen ab und nehme den ersten Bissen. Es ist wieder so eine gute Apfelsine, fleischig und trotzdem saftig, Florida in Glanzform.

Dann verschlucke ich mich. Ein Apfelsinenstückchen bleibt mir im Hals stecken. Ich versuche zu husten, aber es geht nicht. Die Luft, die ich einzuatmen versuche, flirrt vor den geschlossenen Pforten zu meinen Lungen.

Erschrocken gehe ich ins Bad, wo ich mich vor den Spiegel ans Waschbecken stelle. Es ist unsinnig, aber mit meinen Fingern als Kamm bringe ich meine halblangen Locken in Form, und die Bewegung tut mir gut, denn so will ich, dass das Leben ist: ruhig und ohne Komplikationen. Eine Brise weht. Das Fenster im Bad ist in diesem Appartement das einzige, das nie geschlossen wird, wegen der Ventilation. Die Luft von draußen streichelt meine Wangen und meine Haare, aber einatmen geht nicht.

Ich reiße mich zusammen, mache ein Hohlkreuz, indem ich mich, noch immer vor dem Spiegel, möglichst weit zurücklehne. Dann werfe ich den Oberkörper mit voller Kraft nach vorn, bis meine Nase fast das Waschbecken berührt. Ich wiederhole diese Bewegung ein paar Mal hintereinander, automatisch, als wäre in mir ein Grundmechanismus eingeschaltet worden, dessen Existenz ich nie zuvor entdeckt hatte. Leider versagt der Mechanismus. Das niederträchtige Obststückchen bewegt sich nicht von der Stelle und in meiner Speiseröhre rührt sich nichts.

Noch mache ich mir nicht so richtig Sorgen. Ja, allmählich wird mir schon bewusst, dass die Situation ernst ist, aber lebensbedrohlich kann sie unmöglich sein, weil ich ja gleich zu meinem Sohn fliege und das Taxi jeden Moment kommen kann.

Ich öffne den Badezimmerschrank. Es ist unbegreiflich, aber genau das mache ich: Ich inspiziere den Inhalt. Eine halbvolle Packung Tampons, mit und ohne Applikator, super und super plus. Ein Röhrchen Aspirin. Ein Stützverband fürs Knie, von Theo. Beim Baseball lässt er sich gern fallen – je öfter er hechtet, desto lauter der Applaus. Ein benutztes Wattestäbchen, an einer Seite klebt Ohrenschmalz, wer lässt so was herumfliegen? Eine Feuchtigkeitscreme, drei Lippenstifte, eine wärmende Muskelsalbe, Kondome für Theo, der so tut, als brauche er sie nicht.

Ah, so ist Sterben also, geht mir durch den Kopf. Man prüft, ob die Hygieneartikel vielleicht ergänzt werden müssen und in der Zwischenzeit pfeift der Brustkasten und hustend geht man zugrunde. Wird man hinterher vermisst, ist es, als würde man einen Föhn suchen: Warum liegt er nicht im Schrank, wer hat ihn woanders hingelegt?

Ich schließe die Schranktüren, die Magneten klicken. Ich wünschte, und fast glaube ich, es laut zu sagen, das Kläppchen in meinem Hals würde sich wie diese Schranktür öffnen und schließen.

Ich sperre den Mund auf, dehne den Kiefer und weite meinen Brustkorb so gut ich kann. Ich breite die Arme aus und versuche, die Panik, die jetzt vom Bauch aufsteigt, wieder runterzufahren. Ich rede mir ein, dass alles gut wird. Ich suche in der Küche nach einem geeigneten freien Platz. Ich schiebe die Barhocker zur Seite und stelle mich mit gespreizten Beinen hin. Ich beuge mich so weit vor, bis mein Kopf zwischen den Toren meiner Knie hängt. Ich richte mich wieder auf und recke mich so hoch ich kann. Auch diese Übung wiederhole ich ein paar Mal hintereinander. Nichts geschieht. Außer, dass ich immer röter anlaufe. Mein Schädel wummert.

Den Tisch schiebe ich jetzt auch zur Seite. Ich rudere mit den Armen und mache – nach ein paar vergeblichen Anläufen – einen Handstand gegen den Kühlschrank. Ich schüttele meinen auf dem Kopf stehenden Körper, aber das Kläppchen bleibt fest verschlossen und mit pochenden Schläfen lasse ich die Beine wieder runter.

Ich komme nicht auf den Gedanken, bei den Nachbarn anzuklopfen. Ebenso wenig denke ich daran, einen Notarzt anzurufen, was kann ich sagen, wenn ich nur zu röcheln vermag? Sollte ich Michael eine SMS schicken? Welchen Abschiedssatz textet man, wenn man gerade erstickt – leb wohl, eine Apfelsine hat mich das Leben gekostet, ich liebe dich, schade, dass du nicht da bist, um den Heimlich-Griff zu machen?

Noch eine kleine Weile und mein Gehirn wird aus Sauerstoffmangel platzen. Ich stelle mich wieder vor den Badezimmerspiegel. Meine Finger folgen den Knorpelspangen der Luftröhre vom Kinn bis zum Anfang meines Schlüsselbeins. Ein Hals sieht auf den ersten Blick weich aus. In Wahrheit ist er steif und widerwärtig hart, über seine Konstitution denkt man lieber nicht allzu lange nach.

Ich kneife in meine Schilddrüsen, drücke die Daumen auf die Stelle, an der sich das hinterhältige Stückchen vermutlicherweise eingenistet hat. Ich stecke mir meinen zitternden Mittel- und Zeigefinger in den Rachen. Ich muss nicht mal würgen. Ich greife nach einer Zahnbürste und versuche, mir damit im Hals rumzustochern.

Ich muss an einen Film denken, den ich mal gesehen habe, über einen Mann, der fast in einem Restaurant an einem rosa gebratenem Entenfilet erstickt wäre. Dass er seine Ente überlebte, war nur der Geiestesgegenwart des Kellners zu verdanken, der mit seinem Korkenzieher ein Loch in den Hals und die Speiseröhre des Mannes bohrte. Zusammen mit dem Blut hustete das Opfer auch das Filet aus.

Ich sehne mich danach, mich so zu verwunden.

Ich stürze zu der Schublade, in der der Korkenzieher liegt, oder liegen sollte. Wir haben mindestens drei Korkenzieher. Aber heute nicht. Auch nicht, nachdem ich alle Schubladen aufgezogen habe. Ich schnappe mir ein Messer aus dem Messerblock auf der Spüle; eins mit einem stabilen Griff und einer scharf aussehenden Klinge, aber die brauche ich nicht, es geht um die Spitze. Wie eine Krankenschwester die richtige Ader für die Spritze sucht, so forsche ich in meinem Hals nach der richtigen Stelle zum Zustechen.

Im Film fällt der Mann vor Schmerzen in Ohnmacht. Ehe er zu Boden fällt, quiekt er wie ein Schwein auf dem Weg zur Schlachtbank. Schweine, so ist bekannt, spüren, dass sie geschlachtet werden, und ein Teil von ihnen stirbt auf dem Weg zum Schlachthof an einem Herzanfall, der von ihrer tiefen Todesangst verursacht wird. Ich hoffe schon fast, eine solchen Herzanfall zu bekommen. Die Geräusche, die ich ausstoße, hören sich jedenfalls kaum noch menschlich an. Und mein Gesicht ist lila. Schau mich an. Schau, wer da steht. Eine mythologische Figur, die sogar in den Nachschlagewerken ihres Vaters nicht vorkommt.

Ich richte die Messerspitze waagerecht auf meine Luftröhre und will schneiden. Aber so einfach ist das nicht. Gerade, als ich Hand an mich legen will, taucht dort zusammen mit der Anatomie meines Halses das Inventar meiner Existenz auf.

Die ist zu mager, um sie so hinnehmen zu können.

Ich will unseren Sohn an der Seite einer Frau sehen, ich will ihn heiraten sehen, hier, bei uns, ich will ihn Vater werden sehen, ich will Großmutter sein, obwohl sie mich nie Oma nennen dürfen, Mammie ist besser, und Michael wird Pappie heißen. Ich werde mich nicht in Theos Ehe einmischen, aber ich will für meine Enkelkinder stricken; auf den überdachten Holzbänken entlang des Fußweges sitzen immer Frauen und vereinzelt auch Männer, die stricken oder häkeln, manche nähen auch dicke durchgesteppte Patchwork-Quilts, die sie verkaufen. Ich habe den Eifer, mit dem sie die wild gemusterten bunten Stofflappen in eine Decke verwandeln oft bewundert, und genauso oft habe ich mit Verwunderung auf ihre ruhig vor sich hin arbeitenden Hände geschaut, zumal eine solche Decke für diesen Teil des Landes eh viel zu warm ist.

Ich fliege nach Mumbai, weil Theo dort in zwei Tagen dreiundzwanzig wird. Ein Jahr lang bleibt er in dieser indischen Hafenstadt. Er ist zusammen mit seinem besten Freund Jacky unterwegs; sie arbeiten für eine NGO, die Domestic Workers. Sie setzen sich für minderjährige Haussklaven ein, nun ja, Haussklaven, diese Kinder machen viel mehr als nur Hausarbeit.

Mein Mann und ich sind sowohl gegen Kinderarbeit als auch gegen Nichtregierungsorganisationen, aber Theo und Jacky war an unserer Meinung nichts gelegen. Nach ihrem Hotelmanagementstudium wollten sie ein Jahr „echt mal was ganz anderes machen“. Wo jetzt mein Ausweis bereit liegt, auf dem Buchständer aus Zinn auf dem Büfett, lagen vor sechs Monaten ihre Flugtickets und Ausweise.

Sie sind am Freitag, den dreizehnten Juni, geflogen. Wir fragten sie: „Wollt ihr das echt machen, dieses Datum könnte euch Unglück bringen?“ Sie antworteten: „Am Freitag, den dreizehnten, kosten die Flüge zweihundert Dollar weniger als an anderen Tagen, also brauchten wir keine Sekunde nachzudenken.“ Für sie zählte Geld mehr als Aberglaube. Ach, wir müssen einfach kurz durchhalten. Wenn die Jungs nächstes Jahr wieder da sind, wird alles anders. Dann fangen wir an, unseren großen Traum zu verwirklichen. Wir werden ein eigenes Hotel eröffnen. Es braucht nicht groß zu werden; zwanzig Zimmer und ein paar exklusive Suites reichen, natürlich mit einer hippen Bar und einem Fleischrestaurant, ein alternatives Mini Smith & Wollensky, wo genauso sämiges Kartoffelpürree serviert wird, und mit einer Terrasse, auf der einem die gleißende Sonne nicht die Wangen verbrennt...

Ich weiß nicht, wie lange ich im Spiegel die unvollendete Hälfte meines und ihres Lebens anstarre. Die Zeit tickt nicht mehr der Länge, sondern der Breite nach. Keine Uhr kann diese Unermesslichkeit erfassen oder wiedergeben.

Ich drücke auf das Messer an meinem Hals und mit schweißbedeckter Stirn mache ich einen Schnitt.

Eine Sekunde – oder länger – geschieht nichts. Meine Haut wird schneeweiß. Dann strömt ein winziger Strahl hellrote Flüssigkeit zwischen meine Brüste, über meine Bluse mit Blumenmuster. Mir wird klar, dass ich mich nur oberflächlich verwundet habe. Dass das hier lächerlich ist. Und dass ich, wenn ich wieder Luft bekommen will, tiefer schneiden muss, mit der Messerspitze den Knorpel der Luftröhre durchstoßen muss.

Ich bete. Obwohl ich Gott schon seit Jahrzehnten verlassen habe, flehe ich jemanden, einen Allmächtigen, an, während meiner letzten Lebenssekunden eine übermenschliche Kraft in mir aufsteigen zu lassen, so eine Kraft, die man in Krimis sieht, wenn ein Sterbender am Boden liegt und mit seinem offensichtlich letzten Atem mit beispielloser Energie hochschnellt und seinem Bedränger vollkommen unerwartet einen verhängnisvollen Schlag verpasst – „wir-werden-noch-sehen-wer-hier-gleich –den-dreiundzwanzigsten-Geburtstag-ihres-Sohnes-feiern-wird.“

Aber das Beten hilft nicht. Also will ich böse werden, wütend. Bloß weiß ich nicht, auf wen. Mir fehlt eindeutig ein Feindbild. Ein greifbarer Gegner verleiht einem Menschen Kraft. Einem Apfelsinenschnitz kann ich nicht den Krieg erklären.

Plötzlich halte ich das das Obststückchen in der Hand. Ich schaue auf den kleinen, schleimigen Fetzen wie auf ein seltsames Insekt.

Aus Teil II

Dieser Teil spielt im Jahre 2018 und enthält Rückblicke auf 2008 sowie allgemeine Gedanken und Reflexionen.

S. 21

Im Nachhinein habe ich es mich tausende Mal gefragt. Wie konnte es sein, dass ich, die den kleinsten Fehler oder die geringste Abweichung in einem Tapetenmuster entdeckt, sie nicht habe hereinstürmen sehen? Wie konnte ich sie nicht gehört haben? Wie ist es möglich, dass ich nichts gemerkt habe? Ich, das wandelnde Verfahren. Expertin im Prüfen von Richtlinien. Fachfrau für faustdicke Leitfäden für das Hotel- und Gaststättengewerbe. Ich, die als Mystery Guest verpflichtet ist, zu melden, wenn die Naht der Lampenkappe nicht genau nach hinten zeigt – an Orten, an denen man nach Perfektion strebt, dürfen Besucher nicht sehen, wie und wo Teile aneinander befestigt sind; es ist die fließende Linie, die zählt, die Abwesenheit von allem, was das höhere Leben an das gewöhnliche erinnert. Ich, der es auffällt, wenn ein Mitarbeiter keinen Blickkontakt mit mir aufnimmt, wenn die kupfernen Tasten im Aufzug voller fettiger Fingerabdrücke sind, dass die Frau vom Housekeeping ein Kompliment verdient, weil sie so aufmerksam ist, Papiertücher und Kamillentee mit einem Töpfchen Honig neben das Bett zu stellen, weil sie angesichts der vielen Taschentücher im Abfalleimer bemerkt hat, dass ich total erkältet bin. Wie kann dieses „Ich“, das so intensiv bemüht ist, sich in einem Hotel oder Restaurant nichts entgehen zu lassen, nichts gemerkt haben?

S. 41- 42

Er späht er zu dem Gebüsch mit den gelben Blüten, das Maschinengewehr im Anschlag.

Jacky rennt barfuß von uns weg. Im Zickzack flüchtet er auf die andere Gartenseite. Er wird beschossen, nicht von dem Mann, der sich uns nähert, der schießt noch nicht. Ich höre keinen Schrei. Ich höre keinen Aufprall. Ich schlage ein Kreuz, und noch eins. Der Mann richtet seine AK-47 auf uns. Er drückt mir das Gewehr unters Kinn, das sich gen Himmel richtet, und grinst. Er hat den verklärten Blick eines Süchtigen und die Haut eines Pubertierenden. „Angst ist ein Missverständnis”, sage ich zu mir selbst. Der Spruch stammt von dem Kalender, der zu Hause an der Toilettentür hängt und immer wackelt, wenn wir die Tür öffnen oder schließen, ich meine, es sei der Oktoberspruch, aber es könnte auch November sein – Halloween. Merkwürdig feierlich stelle ich mich kerzengerade hin, nehme dieselbe Haltung an, in der wir Amerikaner einen Militärgruß machen oder unsere Fahne ehren. Ich habe keine Ahnung, woher mein auflodernder Stolz, Nationalismus und mein Selbstbewusstsein kommen. Aber Theo macht es mir nach. Wir zerdrücken unsere Hände fast zu Mus. „Hinlegen”, sagt der Mann auf Englisch. Genauso schnell, wie meine großen Gefühle aufgekommen waren, verschwinden sie auch wieder. Ich falle auf die Knie. Auf dem Bauch krieche ich zu dem bewaffneten Mann und umklammere seine Hosenbeine. Vor seinen Füßen liegt eine große gelbe Blüte von dem Strauch. Ich reiche sie ihm. „Du bist erledigt”, sagt er. Ich stecke die Blüte hinter die Schnürsenkel seiner Springerstiefel. Er drückt sein Gewehr in Theos Rücken und befiehlt ihm, sich am Pool auf den Bauch zu legen, die Hände auf dem Rücken. „Inschallah”, sagt der Mann mit der Cargohose und der Kalaschnikow. In meiner Handtasche klingelt mein Handy. Der Klingelton: „Live Could Be a Dream. Sheboom, sheboom.“

Aus Teil III

Handlungsort ist Angelas Rückflug, die vierstündige Flugstrecke von Mumbai nach Abu Dhabi im Jahre 2018. In diesem Teil werden alle Puzzlestücke ihren Platz geschoben.

S. 129 – S. S. 133 oben

Ajmal Amir Kasab. Die Überwachungskameras vom Victoria Station haben ihn gefilmt. Die Bilder gingen um die Welt. Auf YouTube ist er ein Hit. Das Gesicht des Bösen.

Manchmal sehe ich ihn hinter mir, wenn ich in den Spiegel schaue, und auch, wenn ich nicht in den Spiegel sehe, taucht er hinter mir auf; manchmal, es passiert immer noch, drehe ich mich um um zu schauen, ob er dort steht.

Wie groß kann man als Stümper eigentlich sein? Andere abknallen, aber nicht mal in der Lage sein, selbst zu sterben und als Märtyrer zu enden?

Ich war froh, dass er seinen verdienten Lohn bekommen hatte.

Er, Sekret in Händen von Lashkar-e-Taiba. Mörderische Spielfigur in einer fanatischen Maschinerie.

Ich wollte ihn leiden sehen, Theo. Ich wollte miterleben, wie er in die Höhe gezogen wurde und zappelnd um die Wiedereroberung seines letzten Atems kämpfte. Wie seine Halswirbel knackten und das Nass aus seinem zuckenden Körper zu Boden tropfte. Wenn wir die letzten Minuten von Saddam Hoessein bekommen hatten, mussten uns Kasabs auch angeboten werden. Das ist keine Rachgier. Das ist bekommen, worauf man Anspruch hat.

Zu meiner großen Enttäuschung gab die indische Regierung keine Bilder der Strafausführung frei. Nichts. Nicht den Anfang der Strangulation. Nicht die Mitte. Nicht mal ein Stillleben seines Endes.

Wir mussten uns mit einer Handvoll „amtlicher Angaben“ begnügen, Angaben, die ich so gut wie alle längst kannte. Ich hebe alles auf, was über den Anschlag veröffentlicht wird. Wenn eines Tages Presseleute oder die Polizei bei mir anklingeln, weil sie mehr Informationen über die Terroristen brauchen über die Ereignisse in den Tagen und Nächten im Hotel und Umgebung, kann ich ihnen mit ziemlicher Sicherheit tatkräftig weiterhelfen. Fast habe ich aus der Katastrophe einen äußerst detaillierten Mystery-Guest-Bericht gemacht. Die erste amtliche Angabe war dermaßen lächerlich, dass nicht einmal mir der Witz entging: Die Gefängnisärzte haben Kasab untersucht und ihm den Stempel: medically fit to be hanged verpasst. Genau, Ordnung muss sein.

Kasab wurde 1987 geboren, lautete die zweite Tatsache. Er war also einundzwanzig – zwei Jahre jünger als du in diesem Moment! – als er wild um sich mordete und fünfundzwanzig, als sich die Schlinge um seinen Hals zog. Jedenfalls, wenn das Datum stimmt, denn jeder weiß, dass Verwaltungsergebnisse in Ländern wie Indien, Pakistan oder Afghanistan eher über den Daumen gepeilt werden. Es ist schon die Ausnahme, wenn die Geburt eines Kindes überhaupt registriert wird. Die Hälfte der Sklaven, für die du dich eingesetzt hast, gab es verwaltungsmäßig betrachtet nicht einmal.

Die dritte Tatsache: sein erschütterndes Verhör. Es wurde, in Fragmenten, immer wieder gesendet. In allerlei Variationen. Manchmal mit Bild, manchmal ohne.

„Was verstehst du unter dem Dschihad?“ fragen die Kommissare den soeben verhafteten Terroristen. Die Anschläge sind dann noch voll im Gang.

„Dschihad bedeutet morden und ermordet werden. Und nachdem man gemordet hat, und ermordet wurde, wird man berühmt.“

„Kannst du ein paar Koranverse aufsagen, in denen Dschihad vorkommt?“

„Nein.“

„Du kennst den Koran nicht?“

„Nicht wirklich.“

„Was weißt du über den Islam?“

„Allah wird stolz auf uns sein.“

Er glaubt fest daran, dass Sterben während der verbrecherischen Tat das ruhmreichste Ende ist, dass das Leben für ihn in Petto hat. Es ist die Angst und die Gefahr unserer Zeit: Keine einzige Nation kann sich gegen Jugendliche schützen, die nichts zu verlieren haben, auch nicht, wenn sie über die größte und stärkste Armee der Welt verfügt.

Er sieht so jung aus. Ein Kind mit einer Kalaschnikow. In allen Einzelheiten schildert er, dass er nach Indien gekommen ist, weil seine Leiter ihm erzählt haben, dieser große Nachbar sei steinreich, während man in Pakistan an Armut und Misere stirbt.

„Und wenn wir dir genauso viel gezahlt hätten wie deine pakistanischen Auftraggeber?“, fragt der Inspektor.

„Oh, dann hätte ich für euch dasselbe getan wie für sie.“

Ich war verblüfft, als ich das hörte. Verstehst du, was das bedeutet, mein lieber Sohn?

Wenn wir, alle zusammen über zweitausend wohlhabende Hotelgäste des Taj, unsere Portemonnaies ausgeschüttet hätten, wenn wir mit unseren Kreditkarten gewedelt und vier Terroristen und ihren Familien an Ort und Stelle eine Unterhaltsleistung versprochen hätten, dann hätte es keine, oder auf jeden Fall viel, viel weniger Tote gegeben.

Ich denke nicht gern daran, aber ab und zu überwältigen mich diese Fragen. Wie ist es möglich, dass wir uns nicht gegen die Gewalt von vier Terroristen mit Milchgesichtern gewehrt haben? Wie konnte die Angst zu sterben uns derart lähmen, dass wir uns, statt eine Bürger-Streitmacht zu bilden, in eine Ecke oder ein Zimmer verkrochen haben, in einem Keller, einem Dienstaufzug?

Ja, ein Teil der Gäste rannte durch die Geheimgänge raus. Aber zahllose andere haben drei Tage lang in Angst eingesperrt da gesessen und gewartet. Zwei und danach vier Teenager mit einer Waffe haben dreitausend Mann in Schach gehalten. Verstehst du, dass ich lieber nicht darüber nachdenke? Darüber, was Angst mit Menschen macht. Wie Feigheit und Lethargie Fuß fassen können. Hatte von dieser finanziellen Elite denn keiner eine Waffe dabei? Eine Magnum, ein Verteidigungsspray, einen Kobutan? Warum haben wir diese Verbrecher nicht überwältigt, ihnen mit ihren Maschinengewehren den Anus gedehnt, wie sie es bei einem der ältesten Opfer getan haben?

Die vierte amtliche Anmerkung: Die Familien der Märtyrer haben nach den Attentaten 150 000 von Lashkar als Belohnung für den Märtyrer-Tod ihrer Söhne bekommen. Das sind um die dreitausend Dollar pro Täter. Die zehn Extremisten haben gemeinsam zwischen einhundertsechs und einhundertachtzig Menschen ermordet. Mit anderen Worten: Jeder Tote ist weniger wert als eine einzige Übernachtung im Taj in der Standardklasse.

S. 137

Dein Vater und Jacky verstehen sich gut. Sie haben eine neue gemeinsame Beschäftigung: Sie organisieren Wohltätigkeitsveranstaltungen für die Domestic Workers Movement. Nach Mumbai will Michael nie wieder, aber für die Kindersklaven dieser Stadt, und in ausbaufähiger Weise von ganz Indien, sammelt er, dem Entwicklungshilfe so verhasst ist und der keine Gelegenheit ausließ, das Profitdenken von Nichtregierungsorganisationen aufs Tapet zu bringen, heute Geld in rauen Mengen. Du müsstest die beiden mal in Aktion sehen. Wie Vater und Sohn.

S. 226 - 228

Unser Streit beginnt meist nach dem zweiten Gang, beim dritten Glas Hokusetsu, dem Haussake. Der Alkohol hilft uns, über dich zu sprechen. Glaub nur nicht, dass wir ohne Sake nicht über dich sprechen würden. Wir sprechen viel über dich, aber nur, wenn wir sicher sind, dass die richtige Stimmung da ist und die richtigen Leute in der Nähe sind. Die richtigen Leute, das sind meist keine Leute. Die richtige Stimmung lässt sich nicht vorhersagen.

Wir wissen beide schon im Voraus, dass der Abend die falsche Richtung einschlagen wird. Diese Aussicht hält uns nicht davon ab. Im Gegenteil. Die Sicherheit, dass die Entladung nicht fern ist, wirkt motivierend, jedenfalls bei mir. Irgendwie finde ich es sogar angenehm, dass ich auf unsere Feigheit bauen kann: Ich weiß, sie wird uns wieder Schmerzen verschaffen. Diese Art von Schmerzen brauche ich. Wer Blasen hat, vergisst für einen Moment seinen pochenden Backenzahn.

An den einfachen Holztischen fängt Michael an, von dir zu erzählen. Er sucht den richtigen Aufhänger, geübt wie er ist, Fallstricken aus dem Weg zu gehen. Ich rieche seine Umsicht und werde gleich aufmüpfig.

„Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich ihm das Schwimmen beigebracht habe?“\

„Das war kein Tag.“

„Ich meine: Erinnerst du dich noch an den Tag, als er im Wasser keine Angst mehr hatte und sich ohne Schwimmreifen ins Tiefe traute?”

„Du bist nicht der Einzige, der ihm Schwimmen beigebracht hat. Ganze Nachmittage habe ich mit ihm im Schwimmbad verbracht, während du bei der Arbeit warst.”

Eine Weile sagen wir nichts. Wir essen. Wir lassen die Stäbchen zwischen unseren Fingern wandern. Wir fragen uns, ob wir noch mehr Sake bestellen sollen. Michael lobt Nobus Küche: „Wunderbar, wie immer.“ Er verschränkt die Arme über der Brust und beugt sich über den Tisch, gibt mir einen Kuss auf die Stirn: „Komm, bitte Angela. Komm. Nicht wieder.“

Dein Vater lässt den Inhalt meiner Wort an sich abprallen wie auch unser Sex seit Mumbai an uns abprallt. Wir haben Sex, ohne beieinander zu sein, und nach der Tat – eine mechanische Interaktion zwischen zwei Körpern – drehen wir uns den Rücken zu und starren jeder gegen eine andere Schlafzimmerwand – eine Aussicht, die die Traurigkeit, die Kränkung und die Einsamkeit noch größer und dunkler macht. Wenn ich Michael begehre, dann nicht, weil ich ihn tief in mir haben will, sondern weil ich Heimweh habe nach etwas, das es nicht mehr gibt.

„Du hast angefangen.“

„Womit?“

„Du sagst, du hast ihm das Schwimmen beigebracht, obwohl du genau weißt, dass meine Rolle mindestens ebenso groß war.“

Das ist also unser neues Muster.