Marjolein Visser: Restmens

Marjolein Visser ist Autorin, Psychologin und Anthropologin. Der virtuose Roman Restmens (Restmensch) ist ihr Debüt und erschien 2020 bei Podium.

Eine Teilübersetzung samt Synopsis/Pressestimmen/Quotes finden Sie hier:

Synopsis:

Restmens wird aus der Perspektive zweier sehr unterschiedlicher Figuren erzählt; erst gegen Ende werden die beiden Erzählstränge zusammengeführt. Pim (16) ist seit seiner Geburt geistig behindert. Seine Eltern schaffen es nicht mehr, sich zu Hause um ihn zu kümmern und er soll in ein Heim kommen, was er auf gar keinen Fall will. Pim verfasst „Radiofeatures“ für fiktive Zuhörer. David ist 39 und war ein erfolgreicher und attraktiver Soziologe, der gern fremdging und seine Freundin Eefje auch sonst nicht immer mit Respekt behandelte. Ein Brand (der nicht weiter beschrieben wird) macht ihn zum schmerzgepeinigten Invaliden. Am Abend vor seinem vierzigsten Geburtstag philosophiert er über die Kernfrage des Romans: Wie viel Raum gibt es in unserer auf äußeren Schein gerichteten Gesellschaft für Menschen wie ihn (und Pim). Sind manche Leben weniger wert als andere? Marjolein Visser (1989) ist Psychologin und Anthropologin. Restmens ist ihr erster Roman.

Pressestimmen/Quotes:

„Herzerschütternd, aber niemals sentimental. [..] Restmens ist ein Debüt, aber Marjolein Visser vermeidet fachkundig diese und andere Fallen. Eine tadellose, fein abgekettelte Novelle, die man nicht so bald vergisst.“ **** NRC Handelsblad „Was für ein großartiges Buch. Der Ton ist leichtfüßig, aber allmählich steigt die Beklemmung. Von bitterer Schönheit.“ Autorin Inge Schilperoord

Teilübersetzung Marjolein Visser: Restmens (Restmensch), Podium 2019

(S. 80-84)

Extra-Sendung von PIM UKW. Zeit: 22:41 Uhr. Ich kann nicht einschlafen, weil Mama im Badezimmer weint. Sie weint sehr schlimm. Es ist ein bisschen wie damals, als Oma gerade tot war, ein paar Tage bevor der Club anfing. An diesem Tag habe ich Crüsli mit Marmelade gekriegt, ein roter Bus fuhr vorbei und der Anruf kam, um es zu erzählen. Mama fing ganz laut an zu weinen. Oma war tot. Davor war sie jeden Tag hier. Sie räumte den Haufen weg, wenn ich ins Wohnzimmer gemacht hatte, sie wusch die Kartoffeln, bevor sie sie kochte, sie half dabei, dass ich nicht an mir rumspielte, und sie machte Stimmen nach beim Vorlesen und auch, wenn sie wieder zu Mama sagte, sie sähe so schlecht aus und müsse nun echt mehr an sich selbst denken. Und jetzt war sie tot. Wenn jemand stirbt oder krank ist, kann man wenig falsch machen, weil alle furchtbar traurig sind, darum ist krank sein oder sterben immer total schlimm und auch total schön. Wir fuhren mit dem Auto zum Haus von meinem Onkel – Wims Vater. Da waren alle, auch Wim. Er kann auch Trecker fahren und Scooter. Wim. Wimmie. Wimmieboy. Wimmiemann. MANN! MANN! COOL! SHIT! Dann musste ich eine Weile still neben Papa sitzen. Ich wollte weg, um mir draußen Sachen anzugucken, aber Papa hielt mich fest und flüsterte mir die ganze Zeit was ins Ohr.

Und dann wurde es gut, weil wir nämlich POMMES HOLTEN. Bevor alle Essen bekamen, beteten wir erst zum Himmel. Alle Kinder saßen auf dem Schoß – ich saß bei Wim – und dann betete Papa und sagte sehr viele liebe Sachen darüber, dass wir einander haben und er stellte auch gar keine schwierigen Bitten wie hilf allen. Ich glaube, dass Gott und der Heilige Geist auch total froh waren. Dann durfte ich mir als Erster Pommes nehmen und alle saßen da und redeten über Oma. Ich habe richtig viel Pommes und auch eine Krokette gegessen. Auf den Tellern für den Abwasch entdeckte ich noch eine halbe Frühlingsrolle zwischen dem Besteck und fragte, ob ich die haben durfte.

Ich durfte. Mama erledigte den Abwasch allein. Keiner durfte richtig helfen. Dann kam Tante Henny – Wims Mutter – und stellte sich zu ihr, legte die Hand auf die Abwaschschüssel und da fing Mama ganz laut an zu weinen, genau wie jetzt, und sie sagte nur einen einzigen Satz: „Wie soll das jetzt mit Pim gehen —“

D. Noch 5 Tage. Jetzt nur noch Eefje. Eefje. Eefje, die mich dieses vorletzte Mal angeschaut hatte, wie sie sich ein großes Tier in einem kleinen Stadtzoo anschauen würde, beschämt, dass sie ihren Ausflug damit verbracht hatte, sich so viel Gefangenschaft anzusehen. Sie wurde rot. „Man sieht dir wirklich an, dass es dir schon viel besser geht“, hatte sie gesagt, noch immer mit roten Wangen. Inzwischen roch ich mich selbst. Ich rieche verdammt noch mal mich selbst. „Bitte hör auf mit diesem Sozialarbeiterinnengequatsche“, murmelte ich.

*

Ich muss sie anrufen. Es ist verdammt noch mal schon Dienstag. Aber jetzt ist es zu spät. Also morgen, wirklich. Und es kommen schon acht Leute, vage Bekannte, aber trotzdem. Jetzt die Schmerzen ignorieren. Ohne Medikamente schmerzt das Atmen nicht nur mehr, sondern fällt auch schwerer, als wäre jeder Zug Sauerstoff ein kleines zappelndes Tier, das aus einem Brunnen gezogen wird. Mir ist jetzt schon mulmig vor der Nacht. Aber lieber das, als an morgen denken, wenn ich zum letzten Mal wegen diesem Scheiß-Geburtstag anrufe. Extra-Sendung von PIM UKW. Zeit: 22:50 Uhr. Ich muss wärmer werden, wie normale Kinder. DENK DARAN, WAS HERR MERKHOUT GESAGT HAT. Gut hinhören, Zuhörer. Und nachdenken!

Das ist eine Livesendung.

Ich lege euch mal kurz zur Seite, Zuhörer. Ich ziehe meinen Pullover jetzt aus und so weiter. Mama duscht.

Ich gehe jetzt auch ins Badezimmer. Extra-Sendung PIM UKW. Zeit: 22:53 Uhr. Zuhörer, ich bin wieder bei euch zurück. Etwas SEHR SCHLIMMES ist passiert.

Ich ging gerade nackt durch den Flur und dann bin ich reingegangen, um sie mir anzuschauen. Durch all die Tropfen auf dem Glas konnte man sie nicht gut sehen. Sie stand vorgebeugt, den Rücken mir zugewandt, als würde sie ein Lämmchen streicheln. Ich musste selbst fast weinen. Ihre Haare waren offen, das konnte man sehen, dann ist sie sehr schön. Und man hörte sie schluchzen.

Ich ging zur Duschkabine. Dann habe ich die Schiebetür aufgemacht. „Mama“, sagte ich leise. Sie drehte sich um und ihre Brüste schwangen zur Seite. „Was machst du denn jetzt, Pim!“, rief sie. Ich versuchte, ihre Haare zu streicheln.

„Lass das!“, rief sie. Und dann leise: „Mein Junge, bitte, geh doch ins Bett.“

Und jetzt liege ich wieder im Bett. Ich habe mir auch meinen Pyjama angezogen. Das ist GANZ SICHER am normalsten. Extra-Sendung PIM UKW. Zeit: 23:01 Uhr. Ich bin aus dem Bett gestiegen und schaue jetzt nach draußen und da sehe ich den Mond, der auf die Straße scheint, zwischen zwei Laternenpfählen hindurch. Dann schaue ich zu dem Stuhl im Flur, über den Papa manchmal seine Krawatten und Sakkos hängt. Ich mache jetzt die Tür zum Flur zu.

Ich gucke wieder nach draußen.

Traurig sein ist sehr schlimm, besonders, wenn Mama es ist. Man merkt, dass man rot wird und warm zwischen den Augen und am allerliebsten will man an einen Ort ganz tief unter dem Boden fliehen, unter sehr viel Sand, ganz tief in der Erde. Und dann kommt das Aller-, Allerschlimmste. Dann ist man allein in der Erde und dann ist es sehr schwierig, noch ein Loch zu finden – zum Beispiel eine Wohnung von einem Maulwurf – um da dann wieder rauszukommen. Und wieder nach oben. Ich denke jeden Tag und immer öfter an Papa und vor allem auch an Mama, die in der Erde hocken. Und dass sie die Löcher nicht finden können, die ich für sie grabe. Ich mache das ganz falsch.

Ich werde normal werden und ihr helfen und sie aufmuntern. Mama sagt, dass ich nichts dafür kann, für ihren Kummer. Es liegt nicht an mir, sondern an meiner Behinderung, sagt sie. Keine Sorge, Zuhörer, mir fällt schon was ein.

(S. 87-91)

D. Noch 4 Tage. Wie jede Nacht warte ich auf das Weggleiten, das ausbleibt. Auf meine eigene Abwesenheit, die zu kommen versäumt. Nachts kann man nichts tun. Man muss warten, bis das Wunder zu einem kommt. Heute Nacht schreibe ich weiter an der Erörterung meiner Selbsterforschung. Alle Komplikationen, alle Unzulänglichkeiten, alle Gründe, warum die Ergebnisse nicht sind, was wir uns von ihnen erhofft hatten.

Ich denke an den verpassten Anruf meiner Mutter und betrachte unterdessen meinen Körper als Untersuchungsprojekt, beurteile alle quälenden Stellen und fantasiere über ein Ende aller Schmerzen.

Erst noch versuchen, Eefje anzurufen. Ich zweifle und mache in Gedanken eine Notiz: morgen, morgen, also eigentlich heute, dann muss es wirklich sein. Ich habe eine Frist. Mein Herz hämmert wieder schneller, als wäre mein Brustkasten ein stickiges Zimmer, dessen Tür aus Versehen zugefallen ist und aus dem es augenblicklich raus will.

Ich drehe mich vom Rücken auf die Seite. Sich anders hinlegen tut zwar in der Regel zunächst mehr weh, aber die Minuten unmittelbaren danach sind einen kleinen Ticken besser als davor. Ich schaue durch den Spalt in meinen Vorhängen und versuche, ein wenig von der Umgebung zu sehen.

Ich schaue zu der Reihe sich verneigender Rohrkolben um den Teich. Offiziell ist es noch nicht mal Sommer, aber es ist jetzt schon heiß. Heiße Nächte sind nur schön, wenn man in der Blüte seiner Fruchtbarkeit steht, davor und danach sind sie die reinste Strapaze. Jedes Jahr geht in der ersten warmen Juninacht ein tiefer Seufzer durch das Spinnennetz der grauen Sonnenaufgang-Häuschen, ein Seufzer, der einen Versuch des Einsteckens darstellen soll. Ein Einstecken, das dir zunehmend schwerer fällt, je weiter sich die Sommermonate brütend in deinen Eingeweiden nesteln und wenn schon eine einzige Wespe sich in eine Plage aus tausenden unter der Dachrinne deiner Pflegewohnung verwandelt.

Ich schalte das Licht an. Ich schaue zu der Zwischentür, die immer offen bleiben muss. Und dann zu der Whiskyflasche mit dem Etikett, auf dem mein Name steht. Und zu der kleinen Skulptur daneben, dem Goldenen Spinoza. Ein Datum vor fast zwei Jahren.

Mein Name. Ich erinnere mich an die Feier danach, kurz vor dem Unglück. Ihre Brüste, die Kurven, in denen sich diese Brüste wanden, die Knöpfe, der Stoff. Jetzt hasse ich Frauen und mich selbst: Sie, die über ihre Exfreunde sprechen und ich über meine Essays – „oder nennt man das Kolumnen?“. Ich hasse die Form, die mich kaputt macht. Ich hasse das Gesetz der Ästhetik. Während meines Vortrags zur Verleihung des Goldenen Spinoza sagte ich, der Inhalt und die Flüchtlinge hätten für sich gesprochen.

Aber ich habe immer gewusst, dass Verpackung alles bestimmt. Ich meine, so wie in das Ende einer Beziehung bestimmt. Verpackung ist fatal. Es ist die Verpackung, die ein äußerstes Haltbarkeitsdatum hat. Das äußerste Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel darin kommt erst viel später, wenn die Verpackung längst weggeworfen und die Lebensmittel verschwendet wurden.

Man kann behaupten, es gäbe keine Ungleichheit. Man solle durch die Verpackung hindurch schauen: den Menschen als Menschen sehen. Aber schau dir mal an, mit wem sie daten. Sie ficken alle schräg über ihrem Stand, jedenfalls wenn sie nüchtern sind. Flüchtlinge begnügen sich mit unattraktiven weißen Frauen, weil sie sich weniger attraktiv fühlen als weiße Männer. Sie finden sich mit bunt gemusterten Brillengestellen ab, dem Übellaunigen, den Bodywarmern und den Minderwertigkeitskomplexen, weil sie schon froh sind, dass überhaupt jemand aus diesem Land sie will. Der eigene Geschmack muss sich jeweils an das anpassen, was man selbst zu bieten hat, und das wiederum hängt von der Summe der Formen ab, die wir alle annehmen können. Mit „behandele den Anderen als Menschen“ wird immer die gleichwertige Behandlung des Anderen gemeint, aber wenn es eine Sache gibt, die typisch menschlich ist, dann ist das wohl Ungleichheit. Es steigert unser Selbstwertgefühl, wenn wir andere als „schlechter“ abstempeln. Das ist, was uns zu Menschen macht.

Verpackung bestimmt alles. Auf Partys knüpfen wir Kontakte zu interessanten anderen, indem wir unser kleines Leid in Watte packen. Man sagt, gute Laune sei unterhaltsam, aber ich wage zu behaupten, dass unser gesamtes Entertainment auf Leiden beruht. Das Negative prätendiert zu sein, worum es geht. Ich glaube, aus diesem Grund sind wir so scharf auf Diagnosen. Wir sind hochblabla und hyperblabla, haben eine blabla-Unterfunktion, unsere Dingsda lagert Wasser ein und all das kommt durch ein zu lange verdrängtes Dies oder überarbeitetes Das. Anschließend entertainen wir uns nach Kräften gemäß unseres impliziten Mottos: „Du bist nur komplett, wenn dir etwas fehlt.“ Nachdem meine Mutter offiziell aus der Welt der Models ausgeschieden war, hat sie monatelang mit allen über ihren Darm gequatscht (der sich als spastisch erwies, und dass sie wirklich einen schlechten Tag hatte heute und danke und könnte ich Sojamilch bekommen, oh, wie wenig Leckeres bleibt dann noch auf der Speisekarte). Ganz zu schweigen von unseren öffentlichen Oden an die Urteile unserer Wandercoaches. Wir sehnen uns nach einem mentalen Versteck, an dem wir unsere Mängel in Sortierfächer legen und wir uns selbst irgendwo zwischen all dem Rumgekrähe und den vielen Diagnosen verstecken können. Mit diesem Gedanken habe ich alle Mädchen aufgerissen. Schon beim ersten Bier fing ich an und sagte es zur optimalen Wirkung locker und leise. Dass sie offenbar ihren eigenen Weg gehen und sich zugleich mit anderen verbinden wolle. Beim zweiten Bier tippte ich ihr leicht auf die Hand und sagte ihr, sie klinge wie eine Mediatorin: Jemand, der das Beste in dieser Situation wollte, für alle, aber sie müsse doch auch an sich selbst denken. Beim darauffolgenden Whisky, dass sie zwar so einen soliden Job habe, mir das jedoch recht ironisch vorkam: Auf mich käme sie rüber wie jemand, der auch auf eine Bühne gehörte. Wenn ich dann wirklich Schwung hatte und es noch nicht zum Küssen gekommen war, flüsterte ich, dass ich durchaus sah, dass sie Gruppen mochte, diese jedoch auch hassen konnte. Dass es ihr in Gruppen schwer fiel, wirklich sich selbst zu sein, so, wie sie es jetzt war, bei mir. Reichte es dann noch immer nicht (aber Himmel, meist war jetzt schon längst jemand nackt und fickte ich sie von hinten), flüsterte ich, dass sie zwar so cool tat, ich aber auch sah, dass sie nett gefunden werden wollte. Und dann, noch etwas leiser, unterbrach ich sie und fragte: Bist du eigentlich glücklich? Immer wieder säuselten die Mädchen, ich würde sie so gut verstehen und sie weinten sich aus, während ich ihre Brüste küsste. Leiden in Verpackung bestimmt alles.

Dadurch kommen unsere Durchschnittsgespräche auch nur einem Pingpong mit Tönen und Luft voller Klagen gleich. Nur beim Weiterfragen kommen die Menschen zu Wort, die wirklich etwas mitgemacht haben. Aber je mehr Pflege Menschen brauchen, desto weniger sie reden. Diesen Menschen fehlt ein Publikum, das sie genießt, und ganz bestimmt ein Publikum, das mit ihnen ins Bett will. Ihr Leiden findet keine Sprache. Außerdem sind sie zu müde, sich eine Form auszudenken. Man sieht es, wenn unser Pflegezentrum Tag der offenen Tür hat: Die Besucher bestellen Kroketten und reagieren lautstark auf ihre Instagram- Klagen über zu starke Belastung und was Ibiza dagegen ausrichten kann, während die Behinderten und Flüchtlinge still ihre selbst gebackenen Kekse aus der Aluminiumfolie wickeln und ab und zu freundlich „Ja“ nicken, wenn parfümierter Besuch auf dem Weg zu den Personaltoiletten ihnen scheißfreundlich zuflüstert, welch ein schönes Zentrum das hier nicht sei, und all die tolle selbstgemachte Kunst und was für gemütliche Räume!

Wo die eingebürgerten Flüchtlinge die Illegalen ignorieren, wenn sie sie um Arbeit bitten. Wo die Klügeren den Dümmeren Nachhilfeunterricht verweigern.

Hier hört Leiden endgültig auf, nett zu sein. Verpackung bestimmt alles.

Deshalb lügen wir ja auch so viel. Ich jedenfalls. Schon immer. Vor allem Eefje und den anderen Mädchen gegenüber. Ich verdoppelte die lobenden Worte anderer über mich. Dass das nach dem Unglück mich bedauernde andere wurden, war nur eine Anpassung der Form, nicht der Gewohnheit. Ich machte die Sätze anderer über meinen Charakter schöner, die Sätze anderer über meine Vergangenheit länger. Aus den meisten Punkten machte ich Kommas. Ich wollte sie so gern zu mir locken, bei mir behalten. Dass man die Dinge durch Lügen aufschiebt, das stimmt, natürlich, die Wahrheit zum Beispiel und das Weitermachen mit seinem Leben, aber ich wollte es nicht anders. Ich hätte nichts lieber getan als the whole fucking life aufgeschoben.

Verpackung bestimmt alles.

(S. 159-161)

D. Noch 1 Tag. Es ist schon Abend und zudem Samstag, aber eine Hebammenpraxis hat immer geöffnet. Babys können jederzeit geboren werden und Menschen in Not darf und kann sie nicht ignorieren. Das hat sie noch nie gekonnt und jetzt wird sie dafür bezahlt. Ich drücke die richtigen Tasten. Das Telefon geht. „Willkommen bei Hebammenpraxis van Veelen“, fängt Eefje an. Ein kurzer Augenblick der Erleichterung beim Klang ihrer Stimme. Dann wird die fehlende Verbindung ergänzt. Sie schweigt einen Moment. „Für Notfälle: Drücken Sie die Eins.“

Zum hundertsten Mal denke ich über diese Frage nach und beschließe zum hundertsten Mal dasselbe. Das ist kein Notfall.

„In anderen Angelegenheiten: Bleiben Sie bitte am Apparat; ich helfe Ihnen so schnell wie möglich weiter.“ Ich umklammere den Hörer. „Zurzeit ist sehr viel zu tun. Bleiben Sie am Apparat, ich helfe Ihnen so schnell wie möglich weiter“, sagt sie dann. Einen Moment ist es still. Warum bloß kann ich jetzt nicht nachdenken?

„Sie sind Anrufer Nummer 3“, sagt sie, jetzt viel monotoner.

Ich hätte nicht anrufen sollen. Jedenfalls nicht so. Ich hätte ihre Privatnummer anrufen sollen, damit sie direkt sehen könnte, dass ich es war und mich hätte wegdrücken können. Dass ich sie noch nicht wegdrücke, liegt einzig und allein an meiner Faulheit. „Sie sind Anrufer Nummer 2“, fährt Eefje fort. Die Zwei klingt müder als die Drei. So müde, wie sie nur sein kann. Vor den Meisten kann sie das verbergen. Vor mir nicht. Der Anrufer, der gerade Nummer 1 war und jetzt an der Reihe ist, klagt. Und inzwischen gibt es auch schon einen neuen Anrufer Nummer 3, einen Anrufer Nummer 4 und einen Anrufer Nummer 5 mit einem großen Problem, der Nummer 4 sein könnte, wenn ich einfach auflegen würde. Ich lege mir das Telefon auf die Schulter und schaue nach draußen. Ich folge einem Vogel und versuche, dabei nicht zu blinzeln.

Ich muss mit ihr reden. Ich muss es sagen. Das einzig Richtige muss ich sagen.

Ich muss mich trauen. Ein einziges Mal nur. Ich schrecke von einem Geräusch auf, das immer lauter wird. Eefjes Stimme, jetzt jedoch viel lebhafter. „Hallo? Ist da jemand? Hier ist Eefje van Veelen, was kann ich für Sie tun?“ Ich warte einen Moment, versuche, zu Atem zu kommen. Nicht piepsen beim Reden. Nicht knurren. Ich versuche, mich auf mein Geräusch vorzubereiten. Ich versuche, die Schmerzen wegzuschlucken.

„Ich bin‘s“, sage ich dann fast. Aber bevor ich mich traue, einen Ton hervorzubringen, werde ich weggedrückt. Extra-Sendung PIM UKW. Ab Sonntag muss ich weg von zu Hause. Das ist morgen. Ich glaube, ich werde vielleicht von Herrn Merghout eingesperrt. Ich sitze hier jetzt mit einer Tasse Tee – lauwarmer Tee, der ganz dunkel ist, weil niemand den Teebeutel für mich herausgenommen hat, also traue ich mich nicht, ihn zu trinken. Extra-Sendung PIM UKW. Ich spreche wieder von meinem Bauch aus zu euch. Herr Merghout und ich sitzen draußen vor der Schule, am Teich. Wir warten auf Herrn Pflegegruppe und Dschordschdschons und Papa und Mama, sagt er.

Ich sage nichts. Er fängt wieder davon an, dass ich nicht zu nah dran darf, ans Wasser. Und schon wieder, dass mein Bronze-Schwimmabzeichen ohne Schwimmhilfen nicht zählt. Das kommt, weil ich nicht normal bin. Dass mein neues Zimmer ein tolles Zimmer ist, in dem ich ganz bestimmt viel Spaß haben werde. Von dort aus fährt manchmal ein Minibus zum Sonnenstrahl. Und plötzlich weiß ich es ganz sicher.

Ich muss normal sein und sonst NICHTS.

Nur dann kann ich Clubvorsitzender werden und nicht nur dabei sitzen.

Dann will Mama meine Mutter sein.

Dann bleiben sie.

Dann würden sie mir auch Fragen stellen über Wespen, die Winterzeit und das Ausland.

Dann kann ich mir auch Filme für mein Alter ansehen, ab sechzehn Jahren.

Dann wäre mein Bronze-Schwimmabzeichen dasselbe wie bei normalen Kindern und ich könnte auch Silber machen.

Dann bräuchte ich nicht immer weg von zu Hause, wie normale Kinder, nur in den Sommerferien. Dann hätte ich echte Menschen, die mir zuhören, und nicht nur euch. Live-Sendung PIM UKW.

Ich schaue zum Teich. Ich stehe auf und renne dort hin. Ich höre Herrn Merghout rufen. „Du kannst nicht schwimmen! Dein Bronze-Schwimmabzeichen funktioniert nicht richtig! Du ertrinkst!“ Aber er täuscht sich. Ich bin normal. VÖLLIG NORMAL. Ich kann in dem großen Teich stehen. Mit dem Kopf unter Wasser, das schon.