Vallen is als vliegen

Vallen is als vliegen (Querido, 2019) ist meiner Meinung nach einer der besten Romane, die in den letzten Jahren im niederländischen Sprachgebiet erschienen sind. Die Rechte wurden an Spanien (Gatopardo ediciones, Übersetzung: Catalina Ginard Féron) und England (Pushkin Press, Übersetzung: Sam Garrett) verkauft. In der niederländischen Presse gab es ausschließlich großartige Rezensionen und der Nederlands Letterenfonds (NLF) hat den Roman in die Broschüre 10 Books from Holland aufgenommen, siehe hier Infos in englischer Sprache: http://www.letterenfonds.nl/en/book/1280/falling-is-like-flying

G U T A C H T E N

Manon Uphoff, Vallen is als vliegen (Fallen ist wie Fliegen), Querido 2018, 189 Seiten

Leser,

ich wollte diese Geschichte nicht erzählen. Lange habe ich mich an dem Gedanken meiner mysteriösen Flucht festgehalten, meiner Fassung von „Zurück in die Vergangenheit“, in der Hoffnung, gelassen und beherrscht in einer Welt der Erdichtung da sein zu können. Einer eigenhändig erschaffenen, die ich nach Belieben betreten und wieder verlassen kann.

So beginnt das Buch von Manon Uphoff, das vom Verlag als „ein in der Wirklichkeit verwurzelter Roman über die stetig wachsende, schmerzhafte Vergangenheit“ bezeichnet wird. Als ihre sechzehn Jahre ältere Halbschwester Henne, zu der sie in den letzten Jahren kaum Kontakt hatte, von der Treppe fällt, eine Krankenhausaufnahme verweigert und stirbt, kann die Autorin zu ihrem eigenen Erstaunen nicht mehr aufhören zu weinen und wird von großer Wut erfasst.

Sie schreibt nicht mehr und hat ihre tiefe Faszination für Geschichten verloren. Allmählich wird ihr klar, dass sie schreiben muss, was sie so viele Jahre nicht schreiben wollte. Manon Uphoff tritt als Ich-Erzählerin auf und nennt sich „Unterzeichnete“. Sie wächst in einem Haus mit vielen Menschen auf: sechs Kinder haben Henri Elias Hendrikus Holbein (1914) und Anna Alida Steiner (1925) gemeinsam bekommen. Beide waren vorher schon einmal verheiratet; Henri hatte fünf Kinder, die im Buch nicht namentlich erwähnt werden, Anna brachte zwei kleine Töchter mit in die Ehe, Henne (1946) und Toddie (1947). Unterzeichnete gehört zu den sechs Holbein-Kindern aus zweiter Ehe, vier Jungen und zwei Mädchen, Manon (1962) und Libby (1967). Henne und Toddie wurden beide schon jung Mutter, und auch sie und ihre Kinder waren oft im Hause Holbein. Über Toddie wird im Buch noch ausführlicher erzählt, sie war die Frau von Toni P., der später für die Vergewaltigung und den Mord an einem neunjährigen Mädchen zu 18 Jahren Haft und Sicherheitsverwahrung verurteilt wurde.

Henri Elias Hendrikus Holbein (HEHH), gescheiterter Seminarist, hat sich über ein Abendstudium hochgearbeitet und bekleidet eine gute Stelle als Statistiker bei einer Behörde. Er ist gläubig, gebildet, phantasievoll und ein besessener Amateurmaler. Großzügig verschafft er Unterzeichneter Zugang zu seiner Welt der Bibelgeschichten, der erfundenen Geschichten und der echten, zum Beispiel über den Tod des Bruders Tobias, der in Manons Geburtsjahr starb. Wissenschaft, Magie und Sprache, Unterzeichnete – laut HEHH der Nachkömmling mit dem schärfsten Verstand – nimmt alles begierig in sich auf. Auf Seite 61 heißt es:

Wusste HEHH damals, wie mächtig das Geschenk der Sprache, der Zeichen und Bücher war, mit dem er mich auf seine (körperlichen) Nöte und Wünsche vorbreitete und knetete?

S. 62

Die Tür des Elternschlafzimmers schwenkt auf ... Ich bin sechs, vielleicht sieben. Da ist der große verspiegelte Wäscheschrank, der den gesamten Raum auffängt, widerspiegelt und noch einmal, jedoch andersgestaltig, bestehen lässt. Das Bett mit der Tagesdecke aus Zitz, mit blassen Blumen übersät. Auf der Fensterbank die Mariafigur aus Porzellan, pastellgelb und blau, darüber Anna Alidas aus dem Meer gefischte Perlenkette. Das Betreten, wahrhaftige Betreten ... dieses beeindruckenden Kabinetts, wie The Royal Society of Science. Dort zu sitzen als das einzige Mädchen, auf dem knarzenden Lederstuhl, und den alten Pfeifentabak der Weisheit und Exzellenz zu rauchen. Die Titi-Äffchen aus dem Baum zu schießen (wie von Humboldt) und ihr Verhalten zu studieren. Die Pferde in das Wasser mit den Zitteraalen zu treiben (wie von Humboldt). Das Kind von der Mutter zu trennen. Einen eigenen Kaspar Hauser zu halten, um ihm die eigenen Wörter zu lehren. Haben, sein, werden, bleiben, ersehen, wirken, scheinen, heißen, dünken, und aufzutreten als Begleiter, Kamerad, ein nietzeanischer Gefährte. „Lasst uns heute mal die Bewegungen der Himmelskörper betrachten, die Bahnen der Planeten, den Goldenen Schnitt ...“ Nie ein Bild in der Mitte anfangen und nicht den gesamten Bogen bedecken ...“ „Beweg die Hand nicht so schnell auf und ab ... Langsamer, langsam, verdammt ...“ Mit einem grimmigen Lachen und nicht ohne Bedauern schicke ich dieses höfliche Kind durch die schwach beleuchteten Gänge zurück an den Ort, an dem der Flötenbläser spielte und es kein Wissen ohne Bezahlung gab, die Abgabe einer ganz besonderen Steuer. Dort, wo es genau wie die anderen ein Ferkelchen gewesen ist.

HEHH hat in dem von ihm erschaffenen Universum alle Töchter von frühester Kindheit an missbraucht. Die Mutter kümmert sich kaum um die Kinder, im Gegensatz zu Henri. Als Unterzeichnete sie als erwachsene Frau, inzwischen selbst Mutter einer Tochter, mit dem Missbrauch konfrontiert, weil sie von schrecklichen Albträumen gepeinigt wird, bricht Anna Alida weinend zusammen und kriecht auf Händen und Füßen durch den Flur, seitwärts, wie eine Krabbe. In ihrem bunten Kleid, beigen Strümpfen, Schuhen mit kleinem Absatz. Sag mir. What is a girl to do? (S. 83).

Anna Alida war mit sich selbst beschäftigt, weilte auch mal ein paar Wochen in der Psychiatrie, hat sich vermutlich wenig Fragen gestellt oder sich – ohne Beruf und finanzielle Eigenständigkeit – zu ihrem Leben verurteilt gefühlt. Vielleicht liebte sie Henri auch auf unerschütterliche Weise. Sie ist bis zum Tode ihres Mannes 2001 bei ihm geblieben.

S. 73: 1968, `69, `70. Morgen. Da geht Anna Alida, das Wochenende ist vorbei und ihre Wut und ihr Protest sind hörbar an der Art, wie sie den Staubsauger, ramm-bengbang, wie ein angeleintes Gürteltier durch die obere Etage zerrt, quer über alle Türschwellen und gegen die Fußbodenleisten. Vom Jungenzimmer, wo Malle und Kaj in ihrem eisernen Stockbett schlafen, vorbei an Max‘ mit Korkenplatten beklebte Zwischenkammer (einst Abstellkabuff), bis in unser Zimmer, das ich mit Libby teile. An der augenfälligen Ärgernis, mit der sie Libbys Bettchen abzieht und das Flanelllaken und die nassgepinkelte blaue Unterlage unter mir wegzieht, und den Nachttopf mit Wobbelkötteln und geflockten Samensträngen (Henris Laich) leert.

„Montag. Alle zur Tür raus. Und wer kann alles wieder aufräumen? Wer hockt hier mitten in dem Chaos, dem dreckigen Schweinestall?“ „Was hast du denn? Himmelherrgott, schon wieder Bauchweh! Bauchweh, Bauchweh. Bist du vielleicht schulkrank? Du müsstest mal wissen, was ich alles habe.“

Ich sollte lieber ehrlich sein, ich habe wenige Erinnerungen an meine Mutter als einen warmen, willkommenen Ort.

Die längeren Besuche des Minotaurus, wie Unterzeichnete ihren Vater tauft, erfolgten in der Dunkelheit. Wie die Autorin das beschreibt (S. 95 bis 103) ist kaum auszuhalten. Ihre Sinne sind verwirrt und ineinander verstrickt.

S. 96: Auge und Ohr, Nase und Mund, das Innere und das Äußere, Zimmer und Körper, oben und unten, die Zahlen 1 und 2 ... Manchmal tauchte in dem Schwarz der weiße Kreis von Libbys Gesichtchen auf, blass und mit offenem Mund, und der war dann wieder schwarz; sie trug ein Nachthemd mit aufgestickten Punkten ... Oder ein Lamm erschien (ein Aufkleber auf dem Nachtschrank), oder eine Sekunde lang war da ein tropfenförmiges orangefarbenes Licht. [...] Nicht mehr menschlich; ein Tier, ein Molekül ... Chaos, verheiratet mit dem Großmeister des Chaos ... und verliebt, so heftig verliebt, dass man sich an sich selbst verbrenntkocht in dieser Schmiede, in der man zu einer Riesen-Alice umgeschmolzen wird. Um morgens früh in der Gestalt eines Kindergartenkindes aufzuerstehen, und als solches von dem berüchtigten HEEH angekleidet und verpackt zu werden (etwa in eine rote Strumpfhose, Lackschühchen und einen Schottenrock mit Nadel), um zum Kindergarten zu gehen, in dem man lernte, mit einer kleinen Schere Blumen auszuschneiden und auf einer Filzunterlage kleine Papp-Esel auszustechen. [...] Gedemütigt, sagt ihr? Ihr Idioten! Ich wurde nicht gedemütigt, ich wurde zur flammendheißen Sonnenkönigin gemacht! Allen, die mit Geringschätzung über meine auserkorene Stellung reden, rufe ich zu: „Verleumdung!“, und ich bespucke sie: „Verleumdung!“ Eure Kinderwelt war jämmerlich und armselig, die meine war grandios! Ich schleuderte die Planeten mit einem Arm aus ihrer Bahn und in meinem innersten Innenbauch leerte sich der mächtige Gott, der mir willfährig diente. [...]

Ja, mein Vaterpapa war der Minotaurus, der Einige Echte und Wahre. Wag also nicht, ihn niederzumachen! [...] Das schrieb ich (erst) vor Kurzem. Die blaue Tinte verlief auf dem Papier, während meine Hand für mich festlegte, was ich mich nicht zu wissen traute. Wie grandios, wie ehrfurchtgebietend es war, dieses Katiquiwa (Name des von HEHH erfunden Königreiches, AK), und wie blass mein späteres Leben sich oft dagegen ausnahm. Verstehst du?

Als Dreizehnjährige wehrt sie sich gegen ihren Vater.

S. 155: Ich stand ihm gegenüber in seinem Büro am Varkenmarkt (wo er wie üblich an seinem Schreibtisch saß) und sprach mein noli me tangere aus. Vater, rühr mich nicht mehr an, denn ich bin bei einem Manne gewesen.

Unterzeichnete verlässt das Elternhaus mit sechzehn Jahren. Gegen Ende des Buches in dem Kapitel Hexensabbat (Grand Guignol) treffen sich alle Holbein-Frauen. Sie essen und trinken, sie vernichten HEHH in Gedanken vollständig, tauschen sich aus, besiegen ihre Angst, jedenfalls für eine Weile.

Das Ende des Buches (S. 188f.) bezieht sich auf die Nächte, in denen der Minotaurus zu Besuch kam, siehe Passage oben.

Ja, prachtvolles Reptiliengehirn, weißt du noch, wie unser Leben auf der glühendwarmen Erde begann? Der Zusammenstoß, die Kollaboration der Zellen? Ihr lustvoller Koitus, wie sie sich spalteten und teilten und vermehrten ...? Wie dunkel und grün die enormen Farne waren, riesigen Schirmen gleich? Wie groß, bezaubernd und beängstigend die Insekten mit ihren Außenskeletten, in irisierenden Farben von Metallen und Mineralien, die es noch zu entdecken galt? Wie blau und transparent und flirrend, mit viel Lärm und Geschwirre, die Flügel riesiger Libellen? Diese Geräusche einer Welt, in der alles normal ist, und die nicht nachdenkt über dieses Sein, und in der jedes Zeichen mit sich selbst zusammenfällt. Wo es den Geschmack von süß, sauer oder bitter nicht gibt. Und der einzige Unterschied der des Bits ist, die 0 und die 1. Die 1 bedeutet: das Leben nährend, und die 0: das Leben nicht nährend. Wo Feuer unter Eis glüht, und das Wasser warm ist, lauwarm, grün und schlammig, mit den Fischen, die da durch gleiten, bereits voll Verlangen, durch die Luft zu schweben. Wo wir unser strömendes Blut spüren, ob es nun kalt ist oder warm ... und nichts Metapher ist, sondern alles gleichzeitig, sowohl an der Innen- als an der Außenseite der Zeit besteht, wo Fallen dasselbe ist wie Fliegen. Planeten werden nicht geboren, sie bersten mit Gewalt ins Dasein.

Mit unbändiger literarischer Wucht gelingt es Manon Uphoff, die Leserinnen mitzunehmen in das Universum des Minotaurus, uns seine Grausamkeit und seine Faszination zu vermitteln sowie das Bild einer Familie zu entwerfen, in der alle Grenzen verwischt, alle Rollen zerstückelt sind.

Die Autorin schreibt nicht chronologisch, sondern setzt die verschiedenen Zeiten assoziativ anmutend ein. Sie weiß aber sehr genau, was sie tut; wir wissen als Leser immer, wo wir sind. Sie macht viele Anspielungen auf Literatur, Filme und Popsongs; man spürt ihren blitzgescheiten Geist auf jeder Seite. Das Besondere jedoch ist: Es macht nichts, wenn man die Anspielungen nicht alle einordnen kann, Vallen is als Vliegen lässt sich auf sehr vielen Ebenen lesen. Die peitschenden Sätze, die mitschwingende Wut, die genauen Beschreibungen und die manchmal ein wenig altmodische und mystische Sprache – ich habe seit Jahren keine moderne niederländische Autorin gelesen, die so kraftvoll und elegant erzählt und mich so beeindruckt hat.

Uphoffs Sprache ist große Kunst, die die Leser bis auf die Eingeweide berührt. Ab und zu muss man das Buch weglegen, bekommt Bauchweh, weint, nimmt es wieder zur Hand. Und auf jeder Seite gibt es umwerfend schöne Sätze. Das Wort „Missbrauch“ kommt an keiner Stelle vor, das Wort „Inzest“ ein einziges Mal, im letzten Kapitel beim „Hexensabbat“.

Dieser Roman ist große Literatur in einer sehr bewusst ausgewählten Form und kein Egodokument. Ganz beiläufig erzählt die Autorin auch von einer bestimmten Zeit (die sechziger und siebziger Jahre, die in Deutschland nicht wesentlich anders waren als in den Niederlanden, man denke an vollgequalmte Zimmer und Sophia Loren) und regt mit ihren literarischen und anderen Anspielungen zum Nachlesen und Weiterdenken an. So werden etwa auf Seite 110 ein paar Sätze über die Denkprinzipien der Magie aus dem Standardwerk Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker von Sir James George Frazer zitiert und man sieht sich den Songtext von Bohemian Rhapsody von Queen (S. 117) vielleicht endlich einmal genauer an.

Die vielen Titel von Filmen habe ich beim Lesen notiert, um sie mir nach und nach anzusehen. Dabei sei rasch gesagt, dass Vallen is als Vliegen nirgends verkopft ist und Manon Uphoff niemals den Eindruck macht, über die Köpfe der Leser hinweg mit ihrem Wissen prunken zu wollen: Alles passt und dient der Geschichte.

In der niederländische Presse gab es ausschließlich allerbeste, ja jubelnde Rezensionen und das Buch wurde gerade für einen Literaturpreis nominiert. Die Autorin tritt in sämtlichen Talkshows und Radioprogrammen auf (was sie mit Bravoure macht, und sie kann wahrscheinlich auch gut Deutsch). Hier (ab Minute 15:07) kann man sie sehen: https://www.npostart.nl/ms-boekenclub-vallen-is-als-vliegen-van-manon-uphoff/08-05-2019/POMS_KN_15459973#30b2358da

Beim großen niederländischen Publikum war Manon Uphoff eine eher unbekannte Autorin, aber viele Kollegen und Kolleginnen haben über Vallen is als vliegen so aufrichtig begeistert geschrieben, dass es den Verkauf (inzwischen ist die siebte Auflage erreicht) sicherlich angeregt hat.

In Deutschland ist 2001 Uphoffs Roman Schlafkind in der Übersetzung von Thomas Hauth bei der Deutsche Verlagsanstalt (DVA) erschienen (siehe https://www.perlentaucher.de/buch/manon-uphoff/schlafkind.html).

Im Folgenden die Übersetzung von einigen Quotes im Klappentext (der 7. Auflage):

„Uphoff suchte nach einer ehrlichen Form für eine Geschichte über Missbrauch – und das ist ihr beispiellos gelungen.“ NRC Handelsblad

„Plötzlich versteht man, dass die Autorin diese Geschichte nicht anders erzählen konnte als so: umkreisend, äußerst suggestiv, mit einem passenden mythischen Vokabular.“ HP/De Tijd

Ihre Sprache ist reicher denn je. Ich glaube, es würde ihr Buch zu sehr reduzieren, wenn wir darüber sprechen, man muss es einfach lesen!“ Jeroen Vullings in Nieuwsweekend

„Manon Uphoff ist es gelungen, etwas zu erzählen, für das es kaum Sprache gibt.“ de Volkskrant

„Bedrückend und bezaubernd.“ AD

„Vallen is als vliegen schlägt ein wie eine Splitterbombe.“ De Standaard